Beim Niederschreiben dieser Biographie bin ich mir der beiden entgegengesetzten Pole bewußt, die meine schreibende Hand anziehen. Das eine Extrem ist der Zufall, das andere die das Leben gestaltende Ordnung. Ist alles, wodurch ich auf die Welt kam und, wiewohl unzählige Male vom Tode bedroht, dennoch heil davonkam, um schließlich Schriftsteller zu werden - darüber hinaus noch einer, der sich immerfort bemüht, widersprüchlichste Elemente des Realismus und der Phantastik zu verbinden -, nur die Resultante langer Zufallsreihen? Oder war doch auch eine bestimmte Vorherbestimmung am Werk, nicht in Gestalt irgendeiner übernatürlichen Moira, nicht gleich über meiner Wiege zum Schicksal erstarrt, aber doch irgendwie in mir keimend - sagen wir in meinem Erbgut, wie es sich für einen Agnostiker und Empiriker gehört.

Das Zufällige kann ich in meinem Leben bestimmt nicht von der Hand weisen. Als im Jahr 1915 die Festung Przemysl fiel, wurde mein Vater als Arzt der Österreichisch-Ungarischen Armee von den Russen gefangengenommen. Nach fast fünf Jahren ist er durch das Chaos der russischen Revolution in seine Heimatstadt Lemberg (Lwow) zurückgekehrt, und ich weiß aus seinen Erzählungen, daß er zumindest einmal von den Roten als Offizier, also als Klassenfeind, auf der Stelle erschossen werden sollte und nur deswegen mit dem Leben davonkam, weil ihn, als er bereits zur Erschießung geführt wurde, vom Gehsteig einer ukrainischen Kleinstadt ein Mann bemerkte und erkannte - ein jüdischer Friseur aus Lemberg, der den Stadtkommandanten höchstpersönlich rasierte, so daß er freien Zutritt zu ihm hatte. Deswegen hat man meinen Vater, der ja damals noch nicht mein Vater war, freigelassen, und er kehrte nach Lemberg zu seiner Verlobten zurück. Diese Geschichte kann man, ästhetisch lediglich verwickelt, in einer fiktiven Rezension (»De Impossibilitate Vitae« von Cezar Kouska) meiner Vollkommenen Leere finden. Dort war der Zufall das Schicksal in Person, denn wäre dieser Friseur nur eine Minute später durch diese Gasse gegangen, hätte es für meinen Vater keine Rettung gegeben. Ich habe das als Kind von ihm gehört, und sicher vermochte ich damals, ich mochte zehn Jahre alt gewesen sein, mich keinen abstrakten Erwägungen hinzugeben, um die Kategorien des Zufalls und des Schicksals einander gegenüberzustellen. Mein Vater ist dann ein angesehener und recht vermögender Arzt (Laryngologe) in Lwow geworden. In dem doch recht armen Land, das dieses Vorkriegspolen war, fehlte es mir an nichts. Ich hatte ja eine französische Gouvernante, Unmengen an Spielzeug, und ich habe die Welt, in der ich heranwuchs, für etwas endgültig Stabiles gehalten. Warum aber, vorausgesetzt, daß dem so war, habe ich dann, als die Einsamkeit liebendes Kind, mir dieses skurril-merkwürdige Spiel ausgedacht, das ich in einem anderen Buch, nämlich Das Hohe Schloß, beschrieben habe?

Ich habe mich in fiktive Welten versetzt, die ich mir aber nicht sozusagen direkt ausgedacht oder vorgestellt habe. Als Schüler habe ich »gewichtige Papiere« in großer Anzahl fabriziert: Dokumente, Ausweise, Diplome, die mir Reichtum, hohe Würden und geheime Macht zuerkannten - oder auch unbeschränkte »Vollmachten«, »Passierscheine«, verschlüsselte und chiffrierte Beweise der höchsten Position - irgendwo, in einem Land, das auf keiner Karte zu finden war. Fühlte ich mich denn irgendwie verunsichert? Bedroht? Ist dieses Spiel einem solchen, vielleicht unbewußten Zustand entsprungen? Ich weiß es nicht. Ich war ein guter Schüler. Einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg habe ich von einem älteren Mann, der im Vorkriegspolen irgendeine Stelle im Schulwesen innehatte, erfahren, daß, es war um 1936 oder 1937, als die Intelligenzquotienten aller Schüler der Oberschulen getestet wurden, mein I. Q. über 180 betrug, und ich war damals angeblich - nach den Worten dieses Mannes - das intelligenteste Kind in ganz Südpolen. Wovon ich aber damals keine Ahnung hatte, weil uns die Ergebnisse dieser Tests nicht mitgeteilt wurden. Also zumindest in diesem Sinne, unter diesem Gesichtspunkt, bildete ich schon eine Ausnahme von der Regel des Durchschnitts. Doch konnte mir diese Ausnahme bestimmt nicht dazu verhelfen, daß ich im deutschen Generalgouvernement die Besatzungszeit überlebte. Damals habe ich auf eine sehr unmittelbare, »praktische« Art erfahren, daß ich kein »Arier« bin. Meine Vorfahren waren Juden. Ich wußte vom mosaischen Glauben nichts, und auch von der jüdischen Kultur leider gar nichts; ich verdanke eigentlich erst der Nazi-Gesetzgebung die Erleuchtung, daß in meinen Adern jüdisches Blut fließt. Wir ließen uns aber nicht im Ghetto einschließen. Mit falschen Papieren habe ich zusammen mit meinen Eltern diese Zeit überlebt.

Ich will aber noch auf meine Vorkriegskindheit zurückkommen. Meine erste Lektüre war von einer recht sonderlichen Natur. Es waren anatomische Atlanten und medizinische Fachbücher meines Vaters, die ich durchblätterte, als ich noch kaum lesen konnte - und ich vermochte um so weniger etwas davon zu verstehen, als die Fachbibliothek meines Vaters zum Teil in deutscher, zum Teil in französischer Sprache war. Nur die Belletristik war polnisch. Der Anblick von Skeletten, sauber geöffneten Menschenschädeln, von Gehirnen, die präzise und vielfarbig gezeichnet waren, von Eingeweiden, die, herauspräpariert, mit magisch klingenden lateinischen Namen geschmückt waren, ist mit meinen frühesten Kontakten mit der Bücherwelt verbunden. Dieses Herumstöbern in der Bibliothek meines Vaters war mir selbstverständlich streng verboten, und eben deswegen, als etwas Verbotenes und Geheimnisvolles, hat es mich gelockt. Die menschlichen Knochen muß ich wohl auch noch dazuzählen. Auf einem Regal meines Vaters, hinter der verglasten Tür des Bücherschrankes, lag ein Schädelknochen - os temporis - nach durchgeführter Trepanation, vielleicht ein Relikt aus der Zeit, als er Medizin studierte. Ich habe diesen Knochen, ohne mir dabei etwas Besonderes zu denken, mehrmals in der Hand gehabt (ich mußte dazu meinem Vater erst seinen Schlüssel für eine Zeitlang entwenden). Ich wußte, was das war, doch hat mich der Knochen nicht geängstigt, nur irgendwie verwundert. Seine Nachbarschaft - die Reihen dicker Bände medizinischer Werke - hielt ich für durchaus natürlich: ein Kind kann ja das Banal-Gewöhnliche nicht vom Ungewöhnlichen unterscheiden, weil es dazu ja aller erforderlichen Maßstäbe entbehrt. Diesen Knochen - oder vielmehr sein belletristisches Abbild - kann man in einem anderen Roman von mir (Memoiren, gefunden in der Badewanne) finden. Und zwar als einen sauber aus einer Leiche herauspräparierten Schädel. Einen ganzen Schädel, wie er in diesem Roman beschrieben ist, und der eine bestimmte, obwohl mir selbst nicht völlig klare Rolle spielt, besaß mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, der ebenfalls Arzt war: Er wurde etwa zwei Tage nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Lemberg ermordet. (Damals wurden auch mehrere Polen -zumeist Universitätsprofessoren und Boy-Zelenski, einer der bekanntesten polnischen Schriftsteller - nachts aus ihren Wohnungen geholt und erschossen.)

Nun aber - was für eine objektive, d. h. nicht von mir erdachte, nicht allein aus Assoziationen bestehende Verbindung kann es zwischen diesen Teilen des menschlichen Skeletts und der Zeit des Völkermordes geben? Beruht dieser Zusammenhang allein auf Zufallsserien, auf Koinzidenzen? Ich glaube schon, daß es sich um reine Koinzidenzen gehandelt hat: Ich glaube nicht an Vorsehung oder Prädetermination. Ich könnte mir höchstens an Stelle der prädeterminierten Harmonie eine prädeterminierte Disharmonie denken (meiner Lebenserfahrung entsprechend) - die in Chaos und Wahnsinn mündet. Meine Kindheit war zweifellos friedlich und arkadisch - insbesondere im Vergleich mit den folgenden Jahren.

Ich war ein Bücherwurm. Ich habe alles gelesen, was mir nur in die Hände fiel: die bedeutenden Werke der nationalen Dichtkunst, Romane und populärwissenschaftliche Bücher (ich weiß noch heute, daß ein Buch jener Art, wie sie mir mein Vater schenkte, 70 Zloty gekostet hat - der Preis stand drinnen - und das war damals ein Vermögen, weil man für 70 Zloty einen ganzen Anzug bekam). Mein Vater verwöhnte mich wahrlich. Ich habe mir auch - daran kann ich mich ebenfalls noch erinnern - in den anatomischen Atlanten meines Vaters die weiblichen und die männlichen Genitalien genau betrachtet - besonders »die weibliche Scham« erschien mir als etwas Spinnenhaftes, zwar nicht gleich Ekelerregendes, aber bestimmt als etwas, das mit Erotik nichts gemein haben konnte. Ich glaube später, in meinen Reifejahren, sexuell durchaus normal gewesen zu sein. Da ich aber als Medizinstudent unter anderem auch Gynäkologie studierte und sogar einen Monat lang als Geburtshelfer an einer Klinik tätig war, assoziiere ich die Pornographie von heute nicht mit sexueller Begierde, mit kopulativer Wollust, sondern mit den anatomischen Bildern in den Atlanten meines Vaters und mit meinen eigenen gynäkologischen Untersuchungen. Allein der Gedanke, daß ein Mann vom Anblick weiblicher Genitalien stark erregt werden kann, ist mir recht merkwürdig. Ich verstehe wohl, daß es sich dabei um libido handelt, um die in unsere Sinne eingebauten und von der Evolution vorprogrammierten Sinne: aber ohne Liebe ist mir Sex etwas, das dem unwiderstehlichen Drang eines Menschen ähnelt, Salz und Pfeffer allein löffelweise zu essen, weil ungesalzene und ungepfefferte Gerichte nicht schmackhaft genug sind. Keine Abstoßung, aber auch keine Anziehung, solange es sich nicht um einen ausgesprochenen erotischen Kontakt, um das handelt, was Liebe genannt wird. Als achtjähriger Knabe war ich in einen Backfisch verliebt. Das Mädchen, zu dem ich niemals ein Wort gesagt habe - ich habe es nur öfters in dem Garten gesehen, der sich unweit unseres Hauses befand -, hatte davon natürlich gar keine Ahnung und hat mich wahrscheinlich niemals bemerkt. Es war eine brennende, lang anhaltende Liebe, sozusagen aus jedem Konkretum herauspräpariert, etwas in der Sphäre aller möglichen Wunscherfüllungen. An ihrer Bekanntschaft war mir nicht gelegen. Ich lechzte nur danach, sie aus der Ferne sehen zu können; es gab rein gar nichts weiter. Sollen sich die Herren Psychoanalytiker mit diesem Zustand eines kleinen Knaben befassen. Ich kommentiere ihn nicht, weil ich der Meinung bin, daß man eine solche Episode auf jede beliebige Weise auslegen kann.

Ich habe am Anfang von dem Gegensatz »Zufall-Ordnung« oder »Koinzidenz - Prädetermination« gesprochen. Erst als ich das Buch Das Hohe Schloß verfaßte, sind in mir Vermutungen aufgetaucht, daß mein Los - mein schriftstellerischer Beruf -bereits in mir keimte, als ich mir Skelette, Galaxien in astrophy sikalischen Atlanten, Rekonstruktionen von monströsen Ursauriern des Mesozoikums und farbige Menschengehirne in anatomischen Handbüchern angesehen habe. Das waren vielleicht die äußeren Ursachen oder, besser gesagt, die Impulse und Reize, die meine Empfindsamkeit mitgestaltet haben. Was natürlich nur eine Vermutung ist.
Ich habe mir nicht nur phantastische Königreiche und Würden entworfen, sondern auch Erfindungen gemacht und vorsintflutliche Tiere »projektiert«, an denen es in der Paläontologie mangelte. Ich habe mir z. B. ein Flugzeug in Form eines gewaltigen Hohlspiegels ausgedacht: der Dampfkessel sollte sich im Brennpunkt befinden, am Kranz des Spiegels sollte es wie bei einem Hubschrauber vertikal angebrachte Turbinen geben, deren Rotoren den Schub lieferten, und die Energie für das alles sollte aus den Sonnenstrahlen gewonnen werden. Dieses Unding sollte immer ganz hoch fliegen, damit es über den Wolken (und natürlich nur am Tage) flöge. Auch habe ich erfunden, was es bereits längst gab, nur wußte ich nichts davon: z. B. das Differentialgetriebe. In meinen dicken Heften habe ich auch recht Komisches gezeichnet, darunter ein Fahrrad, auf dem man hoch- und niedergehend fahren sollte, wie ein Reiter auf dem Pferd. Etwas Ähnliches habe ich vor einiger Zeit irgendwo gesehen - vielleicht im englischen New Scientist, aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob es diese Zeitschrift war.

Für interessant halte ich den Umstand, daß ich meine Zeichnungen niemanden zu zeigen versuchte: ja, ich habe sie alle geheimgehalten, sowohl vor meinen Schulkameraden wie vor meinen Eltern, aber ich habe keine Ahnung, warum ich mich so verhielt: vielleicht aus einem kindischen Hang zur Geheimniskrämerei. Doch das war eher nicht der Fall bei meinem Spiel mit dem Ausstellen von »Ausweisen« und »Durchlaßscheinen«, die es einem ermöglichten, in unterirdische Schatzkammern einzudringen. Ich stelle mir vor, daß ich fürchtete, ausgelacht zu werden: denn obzwar ich ja wußte, daß dies nur ein Spiel war, war in meinen Augen damit ein großer Ernst verbunden. Ich habe wohl etwas davon in meinem bereits erwähnten Buch Das Hohe Schloß enthüllt, doch das war nur ein Bruchteil meiner Erinnerungen. Warum? Also zumindest zum Teil kann ich eine solche Frage beantworten. Erstens wollte ich mich im Hohen Schloß in das Kind zurückversetzen, das ich gewesen bin, und lieber so wenig wie nur möglich kommentieren (vom Standpunkt des vernünftigen Erwachsenen, meine ich). Zweitens hat das Buch im Verlauf seines Entstehens eine ihm eigentümliche »normative Ästhetik« (wie bei einem Selbstorganisationsprozeß) hervorgebracht: es hat also manches an Erinnerungen gegeben, die in diesem Kanon irgendwie zu Dissonanzen werden konnten. Nicht, daß ich etwas aus Schuldgefühl oder aus Scham verbergen wollte: es hat nun einmal etwas gegeben, das sich mit dem schlecht reimte, was ich als meine Kindheit beschrieben habe. An erster Stelle wollte ich - ein doch unverwirklichbares Vorhaben - meine Kindheit in ihrem »reinen Zustand« aus meinem ganzen Leben herauspräparieren, herausschälen, so, als ob es die sie nachher bedeckenden Schichten des Krieges, des Massenmords, der Ausrottung, der Nächte im Keller bei Luftangriffen, der falschen Identität, des Versteckspiels, der Gefahren, niemals gegeben hätte. Denn zweifellos hat es ja das alles nicht gegeben, als ich ein Kind beziehungsweise ein sechzehnjähriger Oberschüler war. Ich habe aber ein Zeichen im Text gesetzt, ich weiß nur nicht genau wo, das signalisieren sollte, was ich nicht alles zu verschweigen habe beziehungsweise verschweigen wollte - indem ich, so ganz nebenbei, die Bemerkung fallen ließ, daß jeder Mensch mehrere, untereinander stark differierende, Autobiographien zu verfassen imstande ist - je nach dem ausgewählten Blickpunkt und Auswahlprinzip.

Die Bedeutung der Kategorien »Ordnung« und »Zufall« für das Menschenleben habe ich in den Kriegsjahren auf eine sozusagen rein praktische, instinktive Weise erlernt, wie ein gehetztes, verfolgtes Tier und nicht wie ein denkender Mensch. Ich habe praktisch erfassen können, daß der Unterschied zwischen Leben und Tod von winzigen, belanglosen, allerkleinsten Entscheidungen abhing: ob man sich auf diesem oder jenem Weg zur Arbeit begab, ob man einen Bekannten um ein Uhr oder zwanzig Minuten später besuchte; ob man eine offenstehende oder eine geschlossene Haustür auf der Straße antraf. Zugleich aber kann ich nicht behaupten, daß ich (um jetzt eine rein empirische Ausdrucksweise zu benutzen), dem Selbsterhaltungstrieb folgend, eine Minimax-Strategie, eine Strategie höchster Vorsicht angewendet hätte. Nein, ich habe des öfteren Gefahren herausgefordert. Einige Male, weil ich das für nötig hielt, aber auch dann, wenn es totaler Leichtsinn, ja Unsinn war. So daß ich heute, wenn ich mich an derartig waghalsige und idiotische Verhaltensweisen erinnere, Angst verspüre, vermischt mit Verwunderung, warum und wozu ich das getan habe. Denn Munition aus dem sogenannten »Beutepark der Luftwaffe« heimlich zu klauen und irgendeinem Unbekannten zu übergeben, von dem ich nur wußte, daß er in der Widerstandsbewegung tätig war (was mir möglich war, da ich als Arbeiter einer deutschen Firma Zugang zu diesem »Beutepark« hatte), hielt ich für meine Pflicht. Wenn ich aber etwas -sagen wir, eine Waffe - knapp vor der Polizeistunde irgendwohin bringen sollte und mir zugleich strengstens verboten war, die Straßenbahn zu benutzen (ich sollte zu Fuß gehen), habe ich das dennoch nicht gemacht. Einmal sprang ein sogenannter »Schwarzer«, ein ukrainischer Polizist, von hinten auf dasselbe Trittbrett und umarmte mich, um sich an den Türgriffen festzuhalten, was für mich ein schlechtes Ende hätte bedeuten können. Das war Insubordination, Leichtsinn und Dummheit. Und dennoch habe ich so gehandelt. War das eine Herausforderung des Schicksals oder nur meine Dummheit? Ich weiß es bis heute nicht.

Schon besser kann ich verstehen, warum ich einige Male das Ghetto besuchte, solange es noch offenstand. Ich hatte dort ja Bekannte, die - soweit ich weiß - im Herbst 1942 alle oder fast alle in die Gaskammern von Belzec verschleppt wurden.
Wohl hier kommt bereits die Frage auf, ob das, was ich bisher erzählt habe, insofern relevant ist, als es in einer bewirkendkausalen Beziehung zu meinem Beruf als Schriftsteller steht, ja mehr, zu dem, was ich als Schriftsteller geleistet habe (wobei natürlich Autobiographisches wie Das Hohe Schloß aus der Fragestellung und der Antwort ausgeklammert werden muß).
Ich glaube, daß dem so war - daß es kein Zufall ist, welche Rolle ich dem Zufall als Gestalter des Schicksals in meinem Werk beigemessen habe. Ich habe ja in grundsätzlich verschiedenen gesellschaftlichen Systemen gelebt. Ich habe nicht nur die gewaltigen Unterschiede zwischen ihnen kennengelernt: das arme, aber unabhängige, kapitalistische (wenn man es so nennen muß) Vorkriegspolen, die Pax Sovietica in den Jahren 1939-1941, die deutsche Besatzung, das zweite Kommen der Roten Armee, die Nachkriegsjahre in einem völlig anderen Polen. Zugleich habe ich erfahren, wie brüchig gesellschaftliche Systeme sind; wie sich die Menschen unter extremen Bedingungen verhalten; wie unberechenbar diese Menschen unter enormem Druck werden, so daß man ihre Entscheidungen nie oder fast nie vorhersehen kann. Ich erinnere mich gut an meine Gefühle bei der Lektüre des Romans Mr. Sammlers Planet von Saul Bellow. Das Buch fand ich sehr gut - so sehr, daß ich es etliche Male gelesen habe. Das schon. Aber das meiste von dem, was Bellow seinem Helden Mr. Sammler als Erlebnisse in dem von den Deutschen besetzten Polen zugeschrieben hat, wollte nun einmal nicht richtig klingen. Der erfahrene Romancier hatte vorher bestimmt entsprechendes Material gesammelt. Er hat z.B. nur einen einzigen deutlichen Fehler gemacht, als er einem angeblich polnischen Stubenmädchen einen Namen gegeben hat, den es in Polen eben nicht gibt. Diese Kleinigkeit könnte jedoch mit einem Federstrich ausgebessert werden. Was nicht stimmte, war die »Aura«, das unbeschreibliche Etwas, das man vielleicht sprachlich zum Ausdruck bringen kann, wenn man die gegebene Lage, das abzubildende Los persönlich erlebt hat. Es geht nicht um die Wahrscheinlichkeit einzelner Ereignisse. Damals konnte das Unwahrscheinlichste und Unglaublichste passieren. Es ist der Gesamteindruck, der in mir die Empfindung weckt, daß Bellow das alles nur vom Hörensagen erfahren hat und sich in der Lage eines Forschers befand, der die einzelnen Bestandteile eines Ganzen separat verpackt erhielt und nun versucht, sie zusammenzufügen. Sie so zu vermischen, daß z.B. aus Sauerstoff, Stickstoff, Wasserdampf sowie dem Duft von Blumen die Atmosphäre eines bestimmten Waldstücks zu einer bestimmten Morgenstunde entsteht. Ob so etwas völlig unmöglich ist, kann ich nicht sagen: verteufelt schwer ist es auf jeden Fall. Da ist etwas Falsches, etwas winzig Falsches in der Mischung vorhanden. Diese Zeit hat alle bisherigen literarisch erprobten narrativen Konventionen zermalmt und zersprengt. Die unfaßbare Nichtigkeit menschlichen Lebens im Schoß des Massenmords läßt sich nicht mittels Erzählweisen vermitteln, die Einzelpersonen oder kleine Gruppen zum Kern der Handlung machen. Es ist etwa so, als ob jemand versuchen wollte, mittels genauester Beschreibung der Moleküle, aus denen der Leib von Marilyn Monroe bestand, sie selbst zu schildern. Das läßt sich nicht machen. Ich weiß wirklich nicht, ob ich deswegen den SF-Weg eingeschlagen habe, ich vermute aber, und das ist schon sehr gewagt, daß ich deswegen SF zu schreiben anfing, weil sie sich mit der Gattung Mensch (oder gar: mit den möglichen Gattungen vernünftiger Wesen, von denen eine der Mensch ist) befaßt oder: befassen soll, und nicht mit irgendwelchen Einzelpersonen, seien es Heilige oder Ungeheuer.

Wahrscheinlich aus demselben Grund habe ich auch nach einigen ersten Versuchen (also meinen ersten SF-Romanen) gegen die Paradigmatik der Gattung, wie sie sich in den USA entwickelt hat und erstarrt ist, revoltiert. Solange ich diese Science-fiction nicht kannte, und ich kannte sie ja lange genug nicht (etwa bis zum Jahre 1956 oder 1957 war es Polen so gut wie unmöglich, an Bücher aus dem Ausland heranzukommen), glaubte ich, daß sie eine Weiterentwicklung derjenigen Ausgangspositionen sein müßte, die H. G. Wells mit seinem The War of the Worlds errichtet hatte. Er ist ja diesen ersten Feldherrnhügel hinaufgestiegen, von dem aus man die Gattung in einer Extremlage beobachten kann. Er hat ein Katastrophengebiet vorausgesehen, und zwar richtig: ich habe das im Kriege feststellen können, als ich den Roman etliche Male las.

Meinen ersten SF-Romanen spreche ich heute jeden Wert ab (unbeachtet des Umstandes, daß sie überall sehr große Auflagen hatten und mich weltbekannt gemacht haben). Ich habe diese ersten Romane wie z. B. Die Astronauten aus Beweggründen geschrieben, die ich auch heute gut begreife, obzwar sie allen meinen damaligen Lebenserfahrungen zuwiderliefen - in ihrem Handlungsverlauf und in der in ihnen geschilderten Welt. Die »böse« Welt sollte sich in eine »gute« verwandeln.

In der Nachkriegszeit hat es eigentlich nur diesen Scheideweg gegeben: zwischen Hoffnung und Verzweiflung, zwischen einem historisch unbegründeten Optimismus und einem wohlbegründeten Skeptizismus, der dazu neigt, leicht in den Nihilismus abzugleiten. Natürlich habe ich mich dem Optimismus und der Hoffnung hingeben wollen! Ich habe zwar als Erstling einen realistischen Roman verfaßt, um mich gewissermaßen auf diese Weise (das ist wiederum nur meine Vermutung) von dem Gewicht der Erinnerung zu befreien - damit sie, wie Eiter ausgesondert, zum Gerinnsel werde und mich auf diese Weise von ihrem Druck und ihrer Last befreie (aber vielleicht doch auch, um nicht zu vergessen: das eine konnte ja durchaus mit dem anderen einhergehen). Der Roman heißt Das Hospital der Verklärung. Ein deutscher Kritiker hat ihn für eine Art Fortsetzung des Zauberbergs von Thomas Mann gehalten: was bei Mann nur ein Anzeichen, nur das Grollen eines noch unsichtbaren, weil hinter dem Zeithorizont verborgenen Gewitters war, das hat sich, eben als der letzte Kreis der Hölle, als Schlußfolgerung aus dem vorausgesagten »Untergang des Abendlandes« in der Massenausrottung verwirklicht. Die Ortschaft, das Hospital für Geisteskranke, das ärztliche Personal, alle dargestellten Personen hat es nie gegeben: ich habe sie alle erfunden. Aber zu jener Zeit wurden im besetzten Polen tatsächlich Geisteskranke - und nicht nur sie - massenhaft ermordet.

Diesen Roman habe ich 1948 geschrieben, in meinem letzten Studienjahr. Er ist aber erst 1955 erschienen, da er den Normen des bereits herrschenden sozialistischen Realismus nicht entsprach. In der Zwischenzeit war ich, das kann ich ohne Übertreibung sagen, vielbeschäftigt.

Wir sind aus Lwow nach Krakow gezogen, wobei wir im Kriege unsere ganze Habe verloren. Mein damals einundsiebzigjähriger Vater mußte also weiter im Krankenhaus als Arzt arbeiten; an eine Privatpraxis war nicht zu denken. Wir wohnten in Krakow in einem einzigen Zimmer, und mein Vater besaß ja nicht die Mittel, um sich wieder eine ärztliche Ordination einzurichten. Zufällig fand ich heraus, wie ich uns finanziell helfen konnte. Ich habe einige längere Erzählungen für eine Romanheftreihe geschrieben. Als Thriller waren sie nicht einmal schlecht. Daneben schrieb ich auch Gedichte, die in Tygodnik Powszechny, der »Katholischen Wochenschrift«, in Krakau erschienen. Dort erschienen auch zwei Novellen -eigentlich keine SF, aber am Rande zur Phantastik gehörend. Und das eine oder andere da und dort. Doch nahm ich diese Schreibereien noch immer nicht ganz ernst. Ich wurde ein jüngerer wissenschaftlicher Mitarbeiter an einem sogenannten »Zirkel für die Wissenschaft von der Wissenschaft« (Konwersatorium Naukoznawcze), gegründet von Dr. Mieczyslaw Choynowski. Ihm habe ich meine kostbarsten Texte vorgelegt: eine von mir erdachte »Theorie der Gehirnfunktionen« und eine philosophische Abhandlung. Er hat beides als Unsinn gerügt und mich unter seine Fittiche genommen. Ich mußte also Handbücher der Logik lesen, der wissenschaftlichen Methodologie, der Psychologie und Psychotechnik (Theorie des psychologischen Testens), der Geschichte der Naturwissenschaft und vieles mehr. Als sich zeigte, daß ich kein Englisch konnte, mußte ich dennoch auch englische Titel verkraften: ohne Sprachunterricht. Sie waren so interessant, daß ich sie mit dem Wörterbuch in der Hand zu »knacken« hatte, wie Champollion seine Hieroglyphen. Da ich Latein, Französisch und Deutsch sowie Russisch gelernt hatte, ging das irgendwie. Aber ich kann bis heute nur das englisch Gelesene verstehen. Ich kann Englisch weder sprechen noch das Gesprochene begreifen. Sonst machte ich in der Monatsschrift Zycie Nauki (Das Leben der Wissenschaft) Presseübersichten - vom Standpunkt der Wissenschaft von den Wissenschaften. Dadurch wurde ich in die unselige Lyssenko-Affäre verwickelt, weil ich in der Presseübersicht die Berichte über die Kontroverse zwischen diesem Mann und den ihn widersprechenden sowjetischen Genetikern »tendenziös« zurechtgestutzt habe. Ich hielt die Doktrin von Lyssenko für Humbug, was sich zwar nach einigen Jahren bestätigt hat, was aber für unsere Monatsschrift sofort peinliche Konsequenzen hatte. Etwas Ähnliches ist uns auch etwas später zugestoßen, weil ich in der Wienerschen und Shannonschen Kybernetik eine neue Epoche nicht nur von technischem, sondern zivilisatorischem Ausmaß vorausahnte, damals aber galt die Kybernetik bei uns als »falsche Pseudowissenschaft«. Ich war in jener Zeit über den neuesten Stand der Wissenschaft besonders gut informiert. Der Krakauer Zirkel war nämlich eine Art Verteilungsstelle für die Fachliteratur, die für alle polnischen Universitäten aus den USA und auch aus Kanada kam. Beim Auspacken dieser Bücherkisten konnte ich mir also die Werke »ausleihen«, die mein Interesse erregten, u. a. auch The Human Use of Human Beings von Wiener. Ich habe alles in den Nächten verschlungen, um die Bücher so bald wie möglich den eigentlichen Adressaten zukommen zu lassen. So belesen, habe ich in einigen Jahren diejenigen meiner Romane verfaßt, zu denen zu bekennen ich mich auch heute nicht schäme, also z.B. Solaris, Eden, Der Unbesiegbare usw. Gegen Ende der fünfziger Jahre, als mein Vater nicht mehr lebte, konnte ich uns - also mir und meiner Frau - ein Häuschen am südlichen Stadtrand von Krakau einrichten, in dem wir noch heute wohnen (dicht daneben befindet sich jetzt ein weit größeres Haus, in einem ebenfalls weit größeren Garten, jetzt, da ich diese Worte niederschreibe, im Endstadium des Baues).

Das war auch die Zeit, in der ich meinen zukünftigen literarischen Agenten und seelenverwandte Natur Franz Rottensteiner aus Wien kennengelernt habe. Wir haben damals beide ziemlich viele kritische, manchmal pamphletartige Aufsätze in anglo-amerikanischen Fanzeitschriften, meistens in dem australischen SF Commentary, veröffentlicht, was uns beiden eine gewisse Popularität mit eindeutigem Minus-Zeichen im SF-Ghetto eingetragen hat. Heute bin ich der Meinung, daß wir unsere Kräfte vergeudet haben. Es war mir anfänglich völlig unverständlich, wieso eine solche Menge von Autoren viribus unitis einen solchen gemeinsamen Kerker für die Science-fiction errichtet hat. Ich glaubte, daß allein schon aufgrund des Gesetzes der großen Zahl es unter so vielen Autoren beider Geschlechter unbedingt recht viele geben müsse, die sowohl schriftstellerisch wie auch wissenschaftlich höchst qualifiziert seien. Ich hielt die mich stutzig machende wissenschaftliche Ignoranz der meisten amerikanischen Autoren für unerklärlich, ebenso das peinliche literarische Niveau des SF-Ausstoßes.

Ich befand mich im Irrtum, und es hat lange gedauert, bis ich das eingesehen habe. Als Leser der SF erwartete ich das, was in evolutionären Abläufen der Natur eine neue Tiergattungen schöpfende, fächerartig divergierende Radiation (Speziation) genannt wird. In meiner Ignoranz hielt ich die Ära eines Verne, Wells und Stapledon für den Aufgang, nicht für den Untergang des souveränen Individualismus des Autors. Jeder von ihnen hat nicht nur etwas grundsätzlich Neues, sondern auch etwas völlig anderes geschaffen als seine Zeitgenossen. Jeder von ihnen besaß eine ungeheure Manövrierfreiheit im Räume der Spekulation, weil sich dieser menschen- und bücherleere Raum erst auftat. Jeder von ihnen betrat das Niemandsland von einer anderen Seite, und jeder hat sich eine spezifische Provinz dieser terra incognita angeeignet. Die Nachfolger mußten sich einander in diesem Gedränge hingegen immer mehr angleichen. Sie mußten zu Ameisen in einem Ameisenhaufen werden, zu fleißigen Bienen, von denen jede zwar an einer anderen Zelle der Honigwabe baut, doch ähneln einander alle solchen Zellen im Bienenstock. Das ist eine Gesetzmäßigkeit der Massenproduktion. Die Entfernung zwischen den einzelnen Werken ist nicht weiter gewachsen, wie ich das irrtümlich erwartet habe, sondern hat sich verkleinert. Allein der Gedanke, daß Wells oder Stapledon abwechselnd visionäre Phantastik und typische Kriminalromane hätten schreiben können, ist ja unsinnig. Für die nächste Generation der Autoren war das aber etwas durchaus Normales! Wells oder Stapledon waren wie diejenigen, die das Schach- oder Damespiel erfunden haben. Sie haben neue Spielregeln entdeckt, die Nachfolger haben lediglich diese Regeln mit kleineren oder größeren Variationen angewandt. Das Quellgebiet der Innovation wurde allmählich ausgeschöpft. Die Themenkreise erstarrten. Es kam zur Hybridbildung (Science Fantasy) und zur mechanischen Befolgung fertiger Muster und Schemata im literarischen Spiel. Um etwas grundsätzlich Neues zu erschaffen, bedurfte es eines Vorstoßes in einen anderen Raum der Möglichkeiten. Ich glaube, in der ersten Phase meiner Laufbahn ausschließlich Sekundäres geschrieben zu haben. In der zweiten (Solaris, Der Unbesiegbare) bin ich an die Grenzen des Raumes angelangt, der als Ganzes bereits fast erforscht war. In der dritten, als ich z. B. Rezensionen fiktiver Bücher schrieb und Einleitungen zu Werken, die »irgendeinmal« erscheinen werden, oder (wie jetzt) Zusammenfassungen von Büchern, die »längst erschienen sein sollten, die es aber nicht gibt«, habe ich den bereits ausgebeuteten Raum verlassen.

Am einfachsten kann ich das mit einem konkreten Beispiel veranschaulichen. Ich habe vor zwei Jahren ein kleines Büchlein verfaßt, das sich Provokation betitelt. Das ist die fiktive Rezension eines angeblich zweibändigen Werkes, zugeschrieben einem nichtexistierenden deutschen Historiker und Anthropologen (von mir »Aspernicus« genannt). Der erste Band heißt »Endlösung als Erlösung«, der zweite »Fremdkörper Tod«. Das Ganze ist eine bisher nie dagewesene historiosophische Hypothese über die verkannten Wurzeln des Völkermords und der Rolle, die der Tod, insbesondere der Massentod, in der menschlichen Kultur aller Zeitalter bis zum heutigen Tag gespielt hat. Die literarische Qualität meiner fiktiven Kritik (die recht umfangreich ist, sonst würde sie sich ja nicht zu einem Büchlein auswachsen können) ist hier völlig belanglos. Was zählt, ist der Umstand, daß es Fachhistoriker gegeben hat, die meine Phantasie für die Kritik eines echten Werkes gehalten haben, was von einigen Versuchen bewiesen wurde, sich dieses von mir »nur besprochene« Buch anzuschaffen, es zu bestellen. In meinen Augen ist Provokation auch Science-fiction, da ich den Sinn dieser Gattungskategorie nicht zu definieren, sondern zu erweitern suche.

Das alles weiß ich heute so ungefähr. Alles jedoch, was ich von Anfang an geschrieben habe, war niemals von vornherein in abstracto durchdacht und nachher in literarischer Form verkörpert. Auch habe ich keine »anderen Entwicklungsräume« für die Vorstellungskraft gesucht, im Bewußtsein, daß ich sie suche. Es ist zwar nicht so, daß ich gar nichts über die Empfängnis, die Schwangerschaft, die Geburtswehen berichten könnte; aber auch durchaus nicht so, daß ich die genetische Zusammensetzung der Frucht kennen würde und weiß, wie sie sich in einem Phänotyp - des fertigen Werkes - verwandelt. Hier, im Bereich meiner »Embryogenesen«, sind im Verlauf der Zeit, also in etwa sechsunddreißig Jahren, beträchtliche Unterschiede entstanden.

Meine ersten Romane, zu denen ich mich mit Unbehagen bekenne, habe ich geplant und nach dem ungefähr fertigen Plan konstruiert.
Die Romane der Solaris-Gruppe habe ich alle auf dieselbe Weise verfaßt, die ich mir selber nicht erklären kann. Sie wuchsen aus dem Nichts. Die geburtshelferische Terminologie, die ich soeben benutzt habe, mag unangebracht klingen, aber sie ist irgendwie zutreffend. Ich kann noch jetzt auf die Stellen in Solaris und Transfer zeigen, wo ich mich beim Schreiben recht eigentlich in der Lage eines Lesers befand. Als der Erzähler Kelvin in Solaris die Station erreicht und sie menschenleer findet; als er sich auf die Suche nach den Insassen macht und Snaut trifft, der ihn irgendwie erschrocken anblickt, hatte ich keine Ahnung, warum niemand den Ankömmling erwartet hat, noch, warum sich Snaut so benommen hat. Ja, ich wußte gar nichts von irgendeinem »lebenden Ozean«, der den Planeten bedeckt. Das hat sich mir alles nachher auf eine Weise enthüllt, wie das dem Leser im Verlauf der Lektüre bekannt wird, nur daß ich es war, der dies alles zustande gebracht hat. Und in Transfer stand ich vor einer Wand, als der Astronaut das erste Mädchen erschreckt, das er trifft, und dann fällt das Wort »Betrisation«. Ich wußte noch nicht, was dieses Wort eigentlich bedeutet, ich wußte aber doch etwas: und zwar, daß es irgendeine unüberbrückbare Differenz geben muß zwischen der Kultur, die der Mann verlassen hat, als er zu den Sternen flog, und derjenigen, die er nach seiner Rückkehr kennenlernen muß. Das Gleichnis, das sich aus dem Wörterbuch der Embryologie die idiographischen Termini entlehnt, ist demnach kein Unsinn, denn eine Schwangere weiß zwar, daß sie eine Frucht trägt, doch hat sie keine Ahnung, wie sich die Frucht aus dem Ei in ein Kind verwandelt. Ich liebe derartige Bekenntnisse nicht, weil ich mich für einen Rationalisten halte, und es wäre mir lieber, sagen zu können, daß ich alles oder zumindest sehr viel im voraus gewußt, geplant und gestaltet habe, aber amicus Plato, sed magis amica veritas. Und dennoch läßt sich über meine kreative Methodik etwas aussagen.

Erstens gibt es keine positive Korrelation zwischen der Spontaneität des Schreibens und der Güte der Resultate. Beide erwähnte Bücher habe ich auf ähnliche Art und Weise »ausgetragen«, doch halte ich Solaris für einen gelungenen und Transfer für einen mißlungenen Roman (weil es die ihm zugrundeliegende Problematik des gesellschaftlichen Bösen und seiner Ausmerzung auf eine allzu primitive, unwahrscheinliche, ja verlogene Weise behandelt. Wenn gar das den anderen mit Absicht zugefügte Böse sich »pharmakologisch« drosseln ließe, könnte doch keine chemische oder sonstige Einwirkung auf das Hirn zum Nichtentstehen jener gesellschaftlichen Abhängigkeiten, Konflikte und Widersprüche führen, daß das von niemandem beabsichtigte Böse aus der Welt verschwinden würde; so, wie ein Insektizid Pflanzenschädlinge zum Verschwinden bringt).

Zweitens garantiert kreative Spontaneität nicht einmal das gewisse Entstehen eines Ganzen, d. h. einer Fabel, die sich nicht nur par force abschließen läßt: ich habe weit mehr derart begonnener Texte ad acta legen müssen, respektive in den Papierkorb werfen, als ich den Verlegern überreichen konnte.

Drittens hat es in diesem Prozeß, der deutliche Züge einer Kreation nach der Methode von trial and error aufweist, immer Stockungen gegeben, falsche Routen, die mich des öfteren zum Rückzug aus einer Sackgasse genötigt haben, oder gar ein »Ausbrennen« des irgendwo im Kopf gespeicherten »Rohstoffes« (der dem Weiterwachsen dienenden Mannigfaltigkeit). Solaris vermochte ich ein Jahr lang nicht zu Ende zu schreiben, bis ich plötzlich - von mir selber - erfuhr, wie das letzte Kapitel lauten müsse. (Dann staunte ich nur darüber, daß ich das nicht gleich gewußt habe.)

Und schließlich und viertens bekam auch das spontan Verfaßte niemals in diesem ersten Arbeitsschub seine endgültige Form. Ausschließlich »linear« habe ich kein größeres Werk (mit Kurzgeschichten ist es anders) in einem Zuge bis zum Ende verfaßt, sondern in den notwendigen Pausen (aus rein physiologischen Gründen kann man ja nicht ohne Unterbrechung am Schreibtisch sitzen) kamen mir neue Einfälle, die das bereits Fertige oder das bald zu Gestaltende bereichert, abgeändert und mit irgendeiner neuen Entwicklung oder Komplexität bereichert haben.

Die aus diesem jahrelangen Ringen mit den Texten gewonnene Erfahrung riet mir, das eben Geschriebene niemals zu forcieren, wenn es nicht irgendwie zumindest zum Teil »ausgereift« ist, sondern mich eine gute Weile - was manchmal Monate oder Jahre bedeutet hat - mit dem neuen Ding im Kopf herumzuschlagen. Oder sich wie eine Schwangere zu verhalten, die ja weiß, daß eine Frühgeburt nichts Gutes für sie zu bedeuten hat. Was aber auch zum Dilemma wurde, denn wie praktisch alle Schriftsteller versuche ich oft, mir Ausreden auszudenken, um nicht zu schreiben. Bekanntlich ist die Faulheit einer der Hauptfaktoren, die einen bei der Arbeit aufhalten. Würde ich warten, bis ich etwas »garantiert Fertiges« im Kopf herumtrage, so könnte ich nimmermehr etwas schaffen.

Meine Schaffensmethode (die ich aber lieber mein Verhalten als Autor nennen möchte) hat sich im Verlauf der Jahre, wenn auch sehr langsam, verändert. Die reine Spontaneität der Anfänge, die mich ein Etwas auch dann schreiben ließ, wenn ich keine blasse Ahnung vom Ganzen, von der Fabel, der Problematik, von den handelnden Personen usw. hatte, habe ich zu vermeiden gelernt, weil sich die Fälle, in denen ich das Angefangene nicht weiterführen konnte, gemehrt haben. Vielleicht wurde der mir gegebene Vorstellungsraum allmählich ausgeschöpft, und es war mit ihm etwa wie mit einem erdölreichen Gebiet, in dem anfänglich das schwarze Gold überall in Geysiren hochspritzt, wo man auch bohrt, aber dann muß man immer kompliziertere Tricks, »Geburtshilfen«, Druckmittel anwenden, um die verbliebenen Reste an die Oberfläche zu fördern. Der Schwerpunkt der Arbeit hat sich also langsam in Richtung des Erreichens einer Uridee, einer Konzeption, eines Einfalls verlagert und verschoben. Ich habe aufgehört, mich sofort mit einem winzigen, mir fertig gegebenen Anfang an die Schreibmaschine zu setzen, sondern ich habe mir immer mehr Notizen, fiktive Wörterbücher, kleine zusätzliche Einfälle niedergeschrieben, was schließlich zu dem geführt hat, was ich jetzt tue: Ich versuche mir die zu kreierende Welt dadurch vertraut zu machen, daß ich das ihr eigentümliche Schrifttum »verfasse«. Jedoch nicht komplette Handbücher oder Soziologie oder Kosmologie irgendeines XXX. Jahrhunderts; nicht die fiktiven Protokolle der Forschungsreisen oder sonstigen Typen von Literatur, in der der »Zeitgeist« einer uns fremden Welt Ausdruck findet: das wäre ja sowieso ein in einem kurzen Menschenleben unverwirklichbares Vorhaben. Nein: die zunächst eher scherzartig ausgedachte Idee vom Schreiben der Kritiken und Rezensionen nichtexistierender Bücher oder von Vorworten zu ihnen (Die vollkommene Leere und Imaginäre Größe) verwende ich jetzt an erster Stelle nicht dazu, um solche Texte zu veröffentlichen, sondern um mein eigenes, nur mir dienendes Wissen über eine Welt zu erschaffen, in ersten Zügen zu skizzieren und nachträglich zur Reifung zu bringen. Ich umgebe mich gewissermaßen mit der Literatur einer Zukunft, einer anderen Welt, einer Zivilisation. Mit einer Bibliothek, die ihr Erzeugnis, ihre Abbildung und Abspiegelung ist. So schreibe ich für mich aber nur kurze Zusammenfassungen oder wiederum »kritische Rezensionen« soziologischer Traktate, naturwissenschaftlicher Werke, technischer Nachschlagwerke, beschreibe Techniken, die die Literatur selbst nach ihrem endgültigen Absterben ersetzt haben (etwa wie das Fernsehen einmal das »Bioskop« von Lumiere ersetzt hat und wie das dreidimensionale Fernsehen wohl die heutigen Fernsehgeräte ersetzen wird). Aber auch »historiosophische Abhandlungen«, die Lexika fremder Zivilisationen, ihre militärischen Doktrinen (alles natürlich in Kurzschrift, denn sonst müßte ich die Langlebigkeit eines Methusalems besitzen). Es ist durchaus möglich, daß ich etwas aus dieser zu einem bestimmten Zweck verfaßten Bibliothek auch unabhängig von den Texten veröffentlichen werde, denen sie als Gerüst und als Informationsquellen zu dienen hatten. Woher nehme ich alle diese Angaben, die mit schönen Titeln versehen sind wie etwa »Dehumanization Trend in Weapon Systems of the XXI. Century«1 oder »Komparative Kulturologie menschenähnlicher Zivilisationen« usw.? In einem Sinne »aus dem Kopf«, in einem anderen aber nicht. Ich habe mehrere anschauliche Vergleiche angestellt, mit denen ich mir selbst und auch anderen zu erklären versuche, wie mein Arbeitsstil aussieht:

  1. Die Kuh gibt zwar Milch - diese stammt ja nicht aus dem Nichts, und so, wie die Kuh, damit sie gemolken werden kann, vorher Gras fressen muß, muß ich Massen der »echten«, also nicht von mir erdachten Fachliteratur aller Art verschlingen, doch ähnelt das Endprodukt dieser geistigen Nahrung so wenig, wie das Gras der Milch ähnelt.
  2. Wie der Affe in den psychologischen Experimenten von Köhler, der nicht an eine hoch hängende Banane heranreichte, und sich aus Geruempel, aus chaotisch herumliegenden Kisten ein Gerüst bauen mußte, um zur Banane emporklettern zu können, so muß auch ich mir in aufeinanderfolgenden Zügen und Versuchen ein »informationelles Gerüst« aufbauen, an dem ich emporzuklettern habe, um zu meiner »Banane« zu gelangen.
  3. Das dritte und letzte Gleichnis ist zwar drastisch und wirkt sehr primitiv, hat aber dennoch etwas Wahres an sich. Bekanntlich gibt es im Klosett einen Wasserbehälter, der sich zuerst füllen muß, und wird dann ein Knopf gedrückt, fließt das ganze Wassser in einem Zuge hinunter. Nachher ist der Behälter eine Weile leer und kein auch noch so ungeduldiges Drücken des Knopfes oder Hebels läßt den kleinen Niagara sofort von neuem fließen. Bei mir entspricht diesem Bild der Umstand, daß ich, wenn ich mit der immer weiteren Anreicherung meiner fiktiven Bibliothek nicht aufhören wollte, es zu einem »Sättigungszustand» kommt, und nachher kann ich nichts mehr meinem Kopf - dem Informationsspeicher - abgewinnen. Die vollkommene Leere habe ich als Sammlung von 15 fiktiven Buchrezensionen fast in einem Zug verfaßt, und nachher »war schon der Behälter leer«. Ja, der Vergleich läßt sich an den Haaren noch ein Stück weiter ziehen. Wie auch beim zu frühen Betätigen des Knopfes nur »abortive Niagaras« hinunterfließen, so kann ich doch am Schluß eines solchen Buches wie Die vollkommene Leere noch etwas herauspressen, aber die Qualität des so gewonnenen Stoffes stellt mich nicht zufrieden und ich lege diese Reste ad acta.

Meine Arbeitsmethode ist aber noch dadurch kompliziert und angereichert, daß ich ja von Zeit zu Zeit quasi-wissen-schaftliche Werke verfaßt habe, die keine gerüstartigen Hilfsmittel der Belletristik sein sollten, sondern durchaus ernst, als selbständige Bücher über die Theorie der Literatur (aber eine mit empirischen Mitteln aufgebaute, die den Humanisten fremd sind) oder als ein Werk wie Phantastik und Futurologie, oder als eine »skeptische Futurologie«, wie sie die Summa technologiae ist, oder als Dialoge (über die letzten Entwicklungschancen der Kybernetik, die latent in ihr stecken), oder als Essays verschiedener Thematik (»Biologie und Werte«, »Pathologie des Sozialismus« usw.) angelegt sind.(2)

Später hat sich herausgestellt, daß sich verschiedene Einfälle, die mich beim Verfassen derartiger »Wälzer« erleuchtet haben, die ich als Hypothesen, als Beispiele benutzte, also sehr viel von dem, was ich beim Schreiben auf dem gewählten intellektuellen Weg sozusagen angetroffen habe, auch belletristisch verwerten ließen: was zunächst auf eine völlig unbewußte Weise zustande kam, weil mir erst von dritter Seite gesagt wurde, d. h. meine Kritiker haben es einfach bemerkt und geglaubt, meine Absichten und mein mit Vorbedacht anhaltendes »Pendeln« zwischen dem seriösen Diskurs und der phantastischen Literatur dort erkannt zu haben, wo ich selber von einem solchen Hin- und Herspringen keine Ahnung hatte. Nachher aber, auf dieses Phänomen aufmerksam gemacht, habe ich manchmal eigene »Wälzer« eben unter dem »exploitativen«, »befruchtenden« Aspekt durchgeblättert.

Im Rückblick bemerke ich, daß ich mich in der Mittelperiode meines schriftstellerischen Schaffens um das Bestehen irgendeiner Kontinuität zwischen den geschaffenen Welten und unserer Welt eigentlich kaum gekümmert habe. Es gibt zwischen der Welt von Solaris, von Eden oder auch Transfer keine auf Anhieb feststellbaren Übergänge, die diese »anderen zivilisatorischen Zustände« mit dem heutigen (fatalen) Stand der irdischen Dinge verbinden könnten. Mein späteres Schaffen jedoch hat deutliche Züge einer Hinwendung zu unserer Welt: d. h. es sind Versuche, eben eine solche Verbindung herzustellen. Ich nenne das manchmal meinen »Hang zum Realismus in der SF«. Wahrscheinlich - aber das ist auch nur eine Vermutung von mir und mit dem Rücken zur Wand wüßte ich sie nicht zu beweisen - entspringen derartige Versuche, die zum Teil einen klaren »Rückzugcharakter« haben (als Verzicht auf Utopie wie auch zugleich Dystopie, als Extreme, die mich entweder abstoßen oder kaltlassen: wie der Fall eines unheilbar Kranken den Arzt), dem Bewußtsein, daß ich ja bald sterben muß, und dem daraus folgenden Wunsch, meine unersättliche Neugier in bezug auf die ferne Zukunft des Menschen und des Alls zumindest mit Vermutungen zu stillen.

Um seinen Lebensabriß ersucht, hat Einstein einmal nicht seine Lebensumstände beschrieben, sondern seine liebsten, weil geistigen Kinder: seine Theorien. Ich bin zwar kein Einstein, ähnle ihm aber in diesem Punkte doch: denn ich habe für den gewichtigsten Teil meiner Biographie die geistigen Schwerarbeiten gehalten. Der unberührt gebliebene Rest hat rein anekdotischen Charakter.
Ich habe meine Frau im Jahre 1953 als junge Medizinstudentin geheiratet. Wir haben einen fünfzehnjährigen Sohn, der meine Romane durchaus gut mag, aber die moderne Musik, Pop, Rock 'n' Roll, die Beatles, sein Motorrad und Automotoren vielleicht gar noch ein klein wenig mehr.

Seit vielen Jahren bin ich nicht mehr Eigentümer meiner Bücher und meiner Arbeit, vielmehr ist das eine und das andere zum Eigentümer meiner Person geworden. Ich stehe meist vor fünf Uhr morgens auf, um zu schreiben: diese Worte tippe ich um sechs. Ich kann jetzt nicht mehr als fünf bis sechs Stunden pro Tag ohne Unterbrechung arbeiten: früher konnte ich so lange schreiben, bis mich die Kraft des Sitzfleisches, nicht die des Geistes, als erste verließ. Ich schreibe immer langsamer, was aber nur zu bedeuten hat, daß ich zwar sehr viel weiterschreibe (das merke ich am Tempo, mit dem ich verbrauchte Schreibmaschinenbänder wegwerfen muß), doch ist mein Selbstkritizismus (die Forderungen, die ich an mich stelle) immer weiter gewachsen: immer weniger von dem, was mir in den Kopf kommt, halte ich für gut genug, um es als einen verwertbaren Stoff, wenn auch nur per trial and error »auszuprobieren«. Die Stelle, die Art und Weise, wo und wie meine Einfälle geboren werden, kenne ich ebensowenig wie alle anderen Leute. Auch halte ich mich nicht für den besten Kenner meiner Texte, das heißt, der ihnen eigentümlichen Problematik. Ich habe viele Bücher verfaßt, von denen ich hier kein Wort gesagt habe: z. B. Die Kyberiade, die Robotermärchen oder die Sterntagebücher, die auf der genologischen Karte der Literatur in den Provinzen der Groteske, der Satire, der Ironie, der Humoristik vom Schlage eines Swiftschen und trockenen Voltaireschen boshaften Gefühls der Misanthropie einzuordnen sind: bekanntlich waren die großen Humoristen Leute, die das Verhalten der Menschheit zu Verzweiflung und Wut getrieben hat. Ich bin einer von ihnen.

Ich bin (wahrscheinlich) zugleich unzufrieden mit allem, was ich verfaßt habe, und auch stolz darauf: ich muß gar vom Hochmut gezeichnet sein. Ich fühle rein gar nichts davon. Ich kann das nur »behavioristisch« daran feststellen, daß ich alle meine Manuskripte zu vernichten pflege, alle mißlungenen Versuche, ungeachtet aller Bitten und Pläne, dieses kolossale Material irgendwelchen Institutionen zur Aufbewahrung übergeben zu wollen. Dazu habe ich mir ebenfalls eine anschauliche Erklärung ausgedacht. Die Pyramiden waren eines der Weltwunder so lange, bis man schließlich zur Erklärung gelangte, wie sie aufgetürmt wurden. Sehr lange, schiefe Ebenen, auf denen Scharen von Sklaven die gewaltigen Felsblöcke auf Holzwalzen hinaufrollten, wurden nachher abgetragen, und deswegen erheben sich die Pyramiden geheimnisvoll und einsam aus den flachen Sanddünen der Wüste. Ich versuche wohl ebenso, meine schiefen Ebenen, Gerüste und anderen Bauwerkzeuge abzutragen und verschwinden zu lassen, damit nur das stehenbleibt, wessen ich mich nicht zu schämen brauche.
 
Ich weiß nicht, ob ich hier die reine Wahrheit einbekannt habe: ich habe es jedoch versucht, so gut es eben ging.

Berlin, im Februar 1983



Anmerkungen


1    Seinerzeit hat Michel Butor den Gedanken ausgesprochen, ein großes Team von SF-Autoren sollte beim Bau einer fiktiven Welt zusammenarbeiten, um ihre Geschichte, auch dort die Geschichte der mit dem Erscheinen vernünftiger Wesen gekrönten natürlichen Evolution, ihre Kultur, ihre philosophischen Systeme usw. viribus unitis zu kreieren, weil ein solches Unternehmen von keinem Einzelgänger bewältigt werden könne (was auch das miserable Niveau der existierenden Science-fiction zur Folge haben sollte). Ich habe damals, als ich diese Worte von Butor las, sie nicht ernst genommen. Und doch habe ich viele Jahre nachher, obwohl allein, versucht, den Grundriß seines Gedankens zu verwirklichen, wie ich ihn hier geschildert habe. Aber auch bei Borges kann man in »Tlön, Uqbar, Orbis Tertius« von einer geheimen Gesellschaft lesen, die eine fiktive Welt in allen ihren Einzelheiten erschafft, in der Absicht, unsere Welt in diese fiktive umzugestalten.


2    Ich will noch das autobiographische Element meines diskursiven Schrifttums dieser Aufzählung hinzufügen. In zwei Worte gefaßt, bin ich ein enttäuschter Weltverbesserer. Meine ersten Romane waren naive Utopien, weil ich eine so friedliche Welt erwarten wollte, wie ich sie in ihnen beschrieben habe (und sie sind in dem Sinne schlecht, in dem eine vergebliche und irrtümliche Erwartung dumm ist). Meine Monographie der SF und Futurologie ist der Ausdruck meiner Enttäuschung über die belletristische und für eine Wissenschaft ausgegebene Literatur, weil beide nicht den Blick des Lesers in diejenige Richtung lenken, in der sich die Welt tatsächlich bewegt. Meine Philosophie des Zufalls ist ein mißlungener Versuch, eine empirisch begründete Theorie des literarischen Werkes zu formulieren, der aber insofern als Versuch gelungen ist, als ich mich mit diesem Buch selbst belehrt hatte, was für Faktoren den Aufstieg und den Untergang literarischer Werke bedingen. Meine Summa technologiae bezeugt jedoch, daß ich zwar ein enttäuschter, aber noch immer kein verzweifelter Weltverbesserer bin. Ich glaube nämlich nicht, daß die Menschheit ein »für immer hoffnungsloser und unheilbarer Fall« ist.