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Im Stanisław-Lem-Archiv befinden sich zahlreiche Durchschläge von Briefen, die der wohl bekannteste Autor Polens in seiner Muttersprache, aber auch auf Englisch oder Deutsch verfasst hat. Adressaten waren u. a. die amerikanische Autorin Ursula K. Le Guin, der Verleger Siegfried Unseld und das Kulturdezernat des ZK der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei.

Die Briefe Lems erhellen die philosophischen und literarischen Konzepte des Autors und liefern Interpretationen zu seinen Werken.

 

 

An Ursula K. Le Guin [ Brief auf Englisch ]
Krakau, den 23. September 1976

Liebe Ursula Le Guin,
es war schön, von Ihnen zu hören. Aber gestatten Sie mir bitte, Ihre Gefühle in Verbindung mit meinem »Abgang« bei SFWA als Überreaktion zu bezeichnen. Psychologisch war das natürlich normal und ethisch nobel. Aber da wir nicht nur in bestimmten Abschnitten unseres Lebens Autor sein können, zu seinen speziellen Zeitpunkten, lassen Sie mich Ihnen sagen, dass die angebrachte Sprache, dies zu diskutieren, die der Vergleichenden Soziologie ist. In meinem eigenen Land werde ich weitgehend von dem Milieu der hommes de lettres ignoriert, selbst wenn ich eine Menge Preise erhalte (drei dieses Jahr), selbst wenn ein hochgeschätzter westdeutscher Verleger, Suhrkamp, nun meine Gesammelten Werke herausgibt, selbst wenn ich im New York Book Review »einer der tiefschürfendsten Geister unseres Zeitalters« genannt werde et cetera.

Ich werde ignoriert, wenn die Kritiker die korrekte Hierarchie der Werte und Errungenschaften unserer Gegenwartsliteratur diskutieren, weil alle diskutierten Schriftsteller im Ausland praktisch unbekannt sind, weil sie zu einem reinen, homogenen, polnischen Olymp gehören, auf dem eine monomodale Verteilung von Leistungen herrscht: Die restliche Welt kennen meine Kollegen noch nicht einmal dem Namen nach, daher ist, was unsere Kritiker zu sagen haben, jetzt ENDGÜLTIG. Ich rühre hier nicht an die Frage, was diese Leistungen in Wahrheit sind: hinsichtlich der Soziologie der Literatur ist das irrelevant. Es ist einfach so, dass ich resp. meine Werke verschiedene Kurse auf verschiedenen »Literaturmärkten« haben, und daher stellt das einen heterogenen und komplizierten Fall dar, abgesehen von dem »echten« und »korrekten« Wert. Nur wenn mein Werk von der (polnischen) Kritik ausgeschlossen ist, nur dann ist es möglich, die Relativität von kritischen Beurteilungen nicht in Betracht zu ziehen, nur dann wird die bereits etablierte Hierarchie literarischer Werte »absolut«.
Nun lassen Sie mich ein Wort über Ihren Fall verlieren. Sie gehören den SFWA an, produzieren aber nicht diese intellektuelle Nullunterhaltung, die praktisch die gesamte Produktion der amerikanischen SF ausmacht. Also sollten Sie als der »Fremdkörper« anerkannt werden, der Sie sind, oder nicht? Nein, da eine verkappte Schizophrenie den Verstand der SF-Fließ-bandschreiber spaltet:  Sie produzieren kulturellen  Schund, träumen aber gleichzeitig von echten & absoluten literarischen und kulturellen Werten. Daher ist Ihr Werk ein perfekter Beleg und handfester Beweis, dass dieser Traum, dieser Anspruch Gültigkeit besitzt - Ihr Werk ist die harte Währung aller Schulden der SF. Es ist wahr, Sie haben eine Reihe von unangenehmen Dingen bezüglich der amerikanischen SF gesagt, aber dennoch gehören Sie den SFWA an, Sie sind kein Außenseiter, Ihre Kritik kann bisher erklärt (oder wegerklärt) werden als eine Art vernünftige, wenn auch harsche Kritik von innen. (Vonne-guts Fall liegt anders, weil er offen Geringschätzung für das ganze »SFdom« predigte.) Mein Eindringen in diese Enklave war jedoch an sich sehr dumm: Ich habe versucht, die US-SF zu meinem Glauben zu bekehren, und irgendeine Art von Querschläger war, wie ich jetzt begreife, unvermeidlich. Ich gebe Ihnen mein Wort: ich war nicht im Geringsten gekränkt von meinem Rausschmiss aus SFWA. Ich weiß nicht, was in Zusammenhang mit meiner Person in »FORUM« veröffentlicht wurde, ich habe nur einen Brief von Mr. Pohl erhalten, der besagt, dass die Statuten von SFWA keinerlei »Ehrenmitgliedschaft« vorsehen, und daher war diese meine Mitgliedschaft lediglich ein Versehen. Natürlich habe ich genau verstanden, was vorging, aber das Beste, was ich machen konnte, war, Mr. Pohl unbesehen zu glauben. Kennen Sie die kleine Anekdote, wie Hus gesagt hat - als er eine sehr alte Frau sah, die mit äußerster Anstrengung etwas trockenes Holz schleppte, um ihn besser brennen zu lassen - »O sancta simplici-tas!« Und bitte denken Sie daran, dass Hus das gesagt hat, als er bereits brannte, während es in meinem Falle überhaupt kein echtes Feuer gab. Wenn ich verletzt bin, dann nur weil nun eine peinliche Situation vorliegt. Ein junger polnischer Dichter, ein sehr talentierter Mann, hat Ihren WIZARD OF EARTHSEA perfekt übersetzt (ich mag dieses Buch sehr), aber er hat gleichzeitig einen offenen Brief an unsere Behörden geschrieben, bezüglich dieser oder jener unterdrückten Freiheit. Und nun hat mein Verleger Angst, ein Buch zu veröffentlichen, das von einem so bösen Mann übersetzt wurde. So muss ich mit einem Ultimatum weitermachen, entweder werden wir Ihren WIZARD veröffentlichen, oder es wird keine Serie »Lems Auswahl« mehr geben.
Sie haben mich gefragt, was ich schreibe. Dieses Jahr war ich einige Monate lang krank, also habe ich praktisch nichts geschrieben. Mein letztes Buch, HOT FEVER oder vielleicht auch HAY FEVER, ist ein kleiner Pseudothriller, eine kleinere Sache, mit einer versteckten Botschaft. Was zählte, wurde im November 1975 geschrieben - THE MASK, eine lange Kurzgeschichte (sie wird diesen Herbst von Seabury veröffentlicht, übersetzt - natürlich - von Mr. Kandel - als ein Band mit dem Titel Mortal Engines). Diese MASK fasziniert mich, da ich zum ersten Mal in meinem Leben ALS FRAU in der ersten Person Singular geschrieben habe. Als eine schrecklich schöne, verruchte, grausige Maid, Mädchen und beutegierige Gottesanbeterin zugleich. Nur Gott weiß, warum ich gezwungen war, solch eine Geschichte zu schreiben. Was ich als nächstes schreiben soll, davon habe ich nicht den Hauch einer Vorstellung. Träge und mechanisch könnte ich, natürlich, dieses oder jenes schreiben, aber ich bin der paläozoischen Ansicht, dass man nur das schreiben sollte, von dem man glaubt, es sei sehr wichtig. So warte ich auf das, was die Alten »Inspiration« genannt haben -oder vielleicht sogar »Berufung« ...
Kandel. Ja, er vollbringt Wunder. Auf gewisse Weise ist er selektiv. Er mag meine jüngsten Experimente (Kritiken fiktiver Bücher etc.) nicht, er mag meine ernsthafteren (oder sollte ich sagen »gewichtigen«?) Texte nicht - er mag seinen Lern lieber ironisch, maliziös, grotesk. Er hat eine Menge seiner eigenen Erfindungen, Wortspiele etc. in Cyberiad und Star Diaries eingespeist. Seine Eingebung, Chaucers Englisch als Nährboden für einige linguistische Spielereien in einer Geschichte in Star Diaries zu nehmen, war wirklich genial. Natürlich stellt Chaucers Englisch kein literarisches Äquivalent des Polnischen aus dem XVI. Jahrhundert dar - aber sogar damit blieb Kandel dem GEIST des Originals treu. Nun versucht er, etwas Eigenes zu schreiben, und ich kann ihm nur viel Glück wünschen: Es ist unmöglich, in unserem Beruf, einem Anfänger eine helfende Hand zu reichen.
Meine besten Grüße an Ihren Theo. Mein Thomas (8 Vi J. alt) spielt bereits ein bisschen Beethoven (Klavier) - was mich glücklich macht. Haben Sie noch einmal vielen Dank für Ihren Brief

really your
St. Lem