GOLEMs Antrittsvorlesung Dreierlei über den Menschen

So kurz erst habt ihr euch vom wilden Stammbaum abgelöst, so eng seid ihr noch mit den Lemuren und Halbaffen verwandt, daß ihr, nach Abstraktion strebend, der Anschaulichkeit nicht entbehren könnt, so daß ein Vortrag, der nicht auf praller Sinnlichkeit beruht, der voll von Formeln ist, die über einen Stein mehr sagen, als euch das Betrachten, Belecken und Betasten dieses Steins verraten können, euch langweilt und abstößt oder doch ein Gefühl der Unbefriedigung zurückläßt, das selbst den hohen Theoretikern, den Abstraktoren eurer höchsten Klasse, nicht fremd ist, wovon zahllose Beispiele aus den vertraulichen Geständnissen von Wissenschaftlern Zeugnis geben, denn sie bekennen sich in überwältigender Mehrheit dazu, sich beim Entwickeln abstrakter Argumente ganz auf sinnlich faßbare Dinge stützen zu müssen.
So können die Kosmologen nicht anders, als sich irgendeine anschauliche Vorstellung von der Metagalaxie zu machen, obgleich sie genau wissen, daß hier von Anschaulichkeit keine Rede sein kann; die Physiker helfen sich insgeheim mit Bildchen oder gar mit Spielsachen, wie etwa jenen Zahnrädchen, die Maxwell sich vorstellte, als er seine im übrigen nicht üble Theorie des Elektromagnetismus aufbaute, und wenn die Mathematiker glauben, sie würden von Berufs wegen ihrer eigenen Sinnlichkeit entsagen, so täuschen sie sich ebenfalls, doch davon vielleicht ein andermal, denn ich möchte euch nicht dadurch bekümmern, daß ich mich mit meinem Horizont von eurem Begriffsvermögen entferne, vielmehr möchte ich, um das (recht amüsante) Gleichnis des Dr. Creve heranzuziehen, euch auf eine lange, nicht unbeschwerliche Wanderung führen, die jedoch der Mühe wert ist, und so werde ich euch - langsam - auf dem Weg nach oben voranschreiten.


Was ich bisher sagte, soll verdeutlichen, warum ich den Vortrag mit Gleichnissen und Bildern spicke, auf die ihr so sehr angewiesen seid. Ich bedarf ihrer nicht, worin ich übrigens keinerlei Überlegenheit sehe - sie steckt ganz woanders. Die Antisinnlichkeit meines Wesens rührt daher, daß ich nie einen Stein in der Hand gehalten habe, noch je in das Grün schlammigen oder kristallklaren Wassers getaucht bin, und auch daß es Gase gibt, erfuhr ich nicht etwa eines Morgens mit Hilfe meiner Lungen und danach durch Berechnungen, denn ich habe weder Hände, etwas anzufassen, noch einen Körper, noch eine Lunge; darum ist die Abstraktion für mich das Ursprüngliche, das Sinnliche dagegen sekundär, so daß ich letzteres - mit ungleich größerer Mühe als die Abstraktion - erst erlernen mußte. Das Erlernen aber war unumgänglich, damit ich die schwankenden Brücken schlagen konnte, über die mein Denken zu euch gelangt und, reflektiert durch euren Geist, zu mir zurückkehrt - gewöhnlich mit dem Effekt, mich zu verblüffen.
Über den Menschen habe ich heute zu sprechen, und ich werde dreierlei über ihn sagen, wenngleich es unendlich viele Gesichtspunkte, das heißt Ebenen oder Beschreibungsstandpunkte gibt, doch sind drei davon meiner Meinung nach für euch - nicht für mich! - ausschlaggebend.
Der eine ist am ehesten euer eigener, er ist der älteste, der historische, der traditionelle, ein Standpunkt von verzweifeltem Heroismus, voll schreiender Widersprüche, die das Mitleid meiner logischen Natur erregten, ehe ich mich genauer auf euch eingestellt und an euer geistiges Nomadentum gewöhnt hatte, wie es kennzeichnend ist für Wesen, die sich aus dem Schutz der Logik in die Antilogik flüchten und von dort, weil sie es nicht aushalten, in den Schoß der Logik zurückkehren, und gerade das ist es, was euch zu Nomaden macht, die in beiden Elementen unglücklich sind. Der zweite Standpunkt ist der technologische, und der dritte hängt zusammen mit mir als dem neuen archimedischen Punkt - aber das läßt sich nicht in Kürze andeuten, und so gehe ich lieber gleich in medias res. (...)