Die Technologiefalle
Windelhöschenphantomatik
Stanislaw Lem über Illusionstechniken und anderes
Für Stanislaw Lem scheint die Zeit der Ernte gekommen. Seit er nach dem Studium der Medizin nebst Philosophie, Wissenschaftstheorie und Kybernetik begonnen hatte, sich in die erste Reihe der Science-Fiction-Autoren emporzuschreiben, wollte er sich als «Schriftsteller mit futurologischen Ansprüchen» ernst genommen wissen. Nun tut ihm die Wirklichkeit selbst den Gefallen und bringt die Erfüllung mehr als einer seiner Verheissungen.
In der «Rückkehr von den Sternen» (1960) etwa beschrieb Lem eine Form des elektronisch-bargeldlosen Zahlungsverkehrs, wie er heute mittels sogenannter Smart cards gang und gäbe zu werden beginnt. Vier Jahre nach diesem Roman erschien die «Summa technologiae», in der eine «Phantomatik» vorhergesagt wird, die den bis dahin aufs passive Zuschauen beschränkten «Rezipienten zum aktiven Teilnehmer, zum Helden, zum Mittelpunkt programmierter Ereignisse macht». Auch sie soll mit der inzwischen eingetroffenen Realität, nämlich «mit der heute verwirklichten und Virtual Reality genannten Illusionstechnik», vergleichbar sein. «Das Problem, das uns jetzt bevorsteht», schrieb Lem damals, «ist folgendes: Wie lassen sich Realitäten erzeugen, die für die in ihnen verweilenden vernünftigen Wesen in keiner Weise von der normalen Realität unterscheidbar sind, doch anderen Gesetzen unterliegen als diese?» Zumindest in seinen ersten Verwirklichungsschritten, schreibt er nun, sei dieses Problem «schon kein Hirngespinst Lems mehr, sondern eine Realität, in die grosse Konzerne (wie Sega zum Beispiel) ganz real Millionen von Dollars investieren».
Der Nachweis, wie dergestalt die einstige Phantastik seiner Futurologie sich empirisch bewahrheitet hat, ist der rote Faden durch die jüngste Sammlung von Essays, die Lem zunächst für ein Computermagazin abgefasst hat, um sie dann zum Reigen seiner Parerga und Paralipomena zu binden. Aber Lem will dabei nicht die «Sünde des Triumphalismus» begehen. Vielmehr heisst die Frage schon auch, weshalb so manches noch immer nicht gekommen ist, was doch so vor über drei Jahrzehnten schon prognostizierbar war. Die Paradoxie, die gleichfalls mit diesen Essays ihre Fortsetzung finden soll, besteht darin, in der Vorhersage die Unvorhersehbarkeit der Zukunft mitzuführen. Die Zukunft soll nicht ausgehen.
Darum insistiert Lem erstens darauf, dass beispielsweise die Träume der künstlichen Intelligenz – so viele theoretische Widerlegungsversuche auch gegen sie antraten und so bescheiden ihre praktischen Erfolge waren und sind – doch noch lange nicht ausgeträumt seien: «Ob künstliche Intelligenz möglich ist, wird die Zukunft zeigen.» Zweitens setzt Lem nun forciert auf das Modell einer Evolutionsbiologie, die zum einen – merklich am aktuellen Furor der Gentechnologie – aus sich heraus informationstheoretische Züge angenommen hat und die zum anderen in eine transbiologische «Autonomie informatischer Evolutionierung» oder «Evolution aus Maschinen» übergehen soll. Und drittens schliesslich mahnt er nun wiederholt, dass trotzdem (wo nicht eher: deshalb) die Realität den zuvor gehegten «Wunschträumen jedes Mal und kategorisch Hohn» spreche.
So kann man zwar die ersten Realisationsformen der «Phantomatik» in Gestalt des Cyberspace feststellen. Aber es ist einstweilen doch nur eine «Windelhöschenphantomatik», und die zwingt nicht allein zu dem Zugeständnis, dass sie «infolge ihrer fast primitiven, einfach nur rein technischen Unvollkommenheit nicht mit dem Reichtum [. . .] der erlebten endgültigen Realität rivalisieren kann», sondern darüber hinaus zu der Einsicht, dass sie «bereits im Vorgriff prostituiert» worden ist: «durch die Absicht, ‹jetzt gleich› sogenannten ‹Computersex› zu haben». Mehrfach stimmt Lem ein solches Lamento an: «Man muss aber auch sagen, dass Computer im Pornobereich eingespannt werden, denn dafür gibt es die entsprechenden Programme, die das zeigen, worauf es dem Kenner ankommt. Doch dieser Einsatz hohen technologischen Könnens, hervorragender Leistungen der Wissenschaften zugunsten niederer, dummer, primitiver, brutaler und ekelerregender Arbeiten stellt eine der grössten Enttäuschungen dar, die für das ausgehende 20. Jahrhundert typisch sind [. . .].»
Tatsächlich kann so von «Triumphalismus» kaum mehr die Rede sein. Lem konzediert sogar, diese Art der Wirklichkeit, ihm entgegenzukommen, habe «meine früheren Prognosen zum Einsturz gebracht». Sein Es-gewusst-haben-Wollen aber schlägt damit nur eine letzte Volte. Bereits im Vorwort zur deutschen Ausgabe der «Summa technologiae» inkriminierte Lem die technologisch erreichten Zustände als «allzu jämmerlich, als dass man sie in die Zukunft hinein verlängern und zum Fundament einer weitreichenden Vision machen könnte». Echte Futurologie dürfe daher nicht bloss eine «von einem Spiegel zurückgeworfene Gegenwart» zeichnen, um vielmehr die «Umrisse ferner Möglichkeiten» erkennen zu lassen.
Zukunft, noch einmal, soll Zukunft sein. Darum konstruiert Lem, wenn er nun umgekehrt darangeht, seine früheren Zukunftsbilder an der Gegenwart zu bespiegeln, diese Gegenwart zugleich als Bestätigung, die ihm Weitblick bescheinigt, und als Widerlegung, die ihm weiter Zukunftsmusik zu singen erlaubt. Aber stützt das wirklich die Futurologie? Dass der fortwährende Vergleich der Gegenwart mit den Vorhersagen von einst den Spiegel in Wahrheit in die Vergangenheit rückt, dämmert dem Futurologen jedenfalls nicht.
Bernhard Dotzler, Neue Zürcher Zeitung
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