Philosophie des Zufalls
Als ich anfing, die »Philosophie des Zufalls« zu schreiben, habe ich ungefähr ein Jahr lang die strukturalistischen Konzeptionen durchgeackert. In meiner Naivität habe ich den alten Strukturalisten der Prager Schule weniger Beachtung geschenkt; ich las die allerneuesten. Nun - es zeigte sich, dass die Prager strukturalistische Schule eine etwas andere Richtung verfolgte und eine etwas andere Terminologie anwendete, wovon ich wirklich kaum eine blasse Ahnung hatte - was man mir in der Diskussion im Polnischen Institut für Literatur vorwarf -, weil ich sie, vielleicht mit Ausnahme von Jakobson, nur flüchtig gestreift hatte. Später habe ich übrigens den Großteil dieser Dinge vergessen. Heute kann ich mich kaum an ein Zehntel jener Weisheiten erinnern, mit denen ich mir damals den Kopf voll stopfte. Glücklicherweise habe ich das erfreuliche Talent, leicht zu vergessen (...)
Das Phänomen der Projektion, der Widerspiegelung dessen, was sich in der Seele des Kritikers abspielt, entlarvt den hohen Grad an Willkür in der Literaturkritik. Gerade diese Einsicht war eines der Motive dafür, dass ich dann meine Theorie des literarischen Schaffens - »Die Philosophie des Zufalls« - entwickelte. Hätte ich in diesem Werk die in alle philosophischen Richtungen auseinanderstiebenden Besprechungen von »Solaris« zitiert, so wäre das eine zutreffende Konkretisierung der Hauptthese über den Zufallscharakter des Schicksals von Büchern geworden. Doch ich sah, dass es mir nicht zustand, mich in einem solchen theoretischen Buch mit meinen eigenen Werken zu befassen. Nebenbei bemerkt, ich kenne nur die Rezensionen, die in den mir bekannten Sprachen verfasst wurden. Ich habe keine Ahnung, was z. B. die Japaner oder die Schweden über mich schrieben. Allgemein lässt sich feststellen: Je origineller ein Werk ist, oder je stärker es vom Gattungsmodell abweicht, desto vielfältiger sind seine Deutungsmöglichkeiten - wie bei einem Rorschachtest. Freilich kann ich mich nicht an die Schreibmaschine setzen mit dem Vorsatz, einen »sehr originellen und daher viele Deutungen zulassenden Text« zu schreiben. Als vor ein paar Jahren der amerikanische Übersetzer Michael Kandel mir hier gegenübersaß und sagte, dass ich unaufrichtig und perfide sei, sah ich ihn groß an. Ich unaufrichtig und perfide? Das kommt davon, dass ich nichts erfinde, sondern nur so schreibe, wie ich kann. Wer würde denn sagen: »Wie viel Musikstunden muss doch diese Nachtigall absolviert haben, sie muss Kontrapunkt gelernt haben, vielleicht ist sie gar eine Schülerin von Penderecki? « Aber woher denn? Sie singt so, weil sie nicht anders kann.