Einführung
Eine Definition des Phantastischen zu geben, ist eine der schwereren Aufgaben, die man sich stellen kann. Die Grenzen dieses Begriffes sind so verschwommen, daß - im Hinblick auf die vielen Dinge, die denkbar sind -, schon die Feststellung, ob das jeweilige Objekt phantastisch ist oder nicht, ein Dilemma darstellt. Ein quadratischer Regenbogen ist ohne Zweifel ein phantastisches Objekt, aber kann man eine Addition, in der zwei und zwei sieben ergibt, phantastisch nennen? Eine derartige Operation kann, wie mir scheint, eine phantastische Prägung erhalten, wenn sie in einem entsprechenden Kontext untergebracht ist. Das heißt, daß das Phantastische nicht Attribut isolierter Begriffe sein muß, sondern diesen durch ihre Zuordnung zu einem bestimmten komplexen System zukommt.
Phantastische Designate gehören teilweise in die Nullklasse, teilweise nicht in die Nullklasse von Begriffen. So sind z. B. ein Zwerg, ein Bewohner des Jupiter oder eine fliegende Schnecke Begriffe nicht existierender, aber phantastischer Dinge. Afrikanische Götter, zweiköpfige Hunde oder Computer, die Menschen hypnotisieren können, sind dagegen Begriffe existierender Dinge (d. h. Dinge, die real existieren können), die dennoch von vielen für phantastisch gehalten werden.
Was die Nullklasse der phantastischen Designate betrifft, so ist deren Menge nicht homogen. Die Nichtexistenz der Zwerge ist nicht dieselbe wie die der fliegenden Schnecken. Ich habe mir die fliegende Schnecke ad hoc ausgedacht, indem ich Attribute realer Dinge miteinander kombinierte, einen Zwerg hingegen kann man sich nicht ausdenken, denn dieser Begriff existiert bereits im Kollektivbewußtsein mancher Kulturkreise. Sicherlich entstand auch dieser Begriff irgendwann als Produkt kombinatorischer Akte, doch er hat keinen spezifizierbaren Autor, zumindest ist er uns nicht bekannt.
Somit umfaßt die Nullklasse der phantastischen Designate sowohl Begriffe, die in einem Kollektivbewußtsein existieren - durch das jedes Mitglied des entsprechenden Gemeinwesens das fiktive Objekt, das zu dem jeweiligen Namen gehört, beschreiben kann - als auch Objekte, die bisher noch niemand erdachte, aber die durch kombinatorische Akte konstruiert werden können. Durch eben diesen Unterschied kommt es, daß das Aussehen eines Zwerges als eines kleinen bärtigen Männleins nicht von mir abhängt, dagegen aber das Aussehen einer fliegenden Schnecke (der ich nach Belieben die Attribute eines Gefieders, eines Vogelfittichs oder eines Insektenflügels etc. beigeben kann). Doch weiter: von der Nichtexistenz realer Zwerge bin ich völlig überzeugt, doch die Existenz von Jupiter-Bewohnern ist für mich nur »wenig wahrscheinlich«. Wir stoßen hier auf die probabilistische Gradation des existentiellen Status phantastischer Objekte. Wenn die Jupiter-Bewohner entdeckt wären und das allgemeine Bewußtsein diese Tatsache assimiliert hätte, dann würden die Jupiter-Bewohner nicht mehr zu den phantastischen Gebilden zählen.
Doch durch die Tatsache, daß ein bestimmtes Objekt real existiert, muß dieses noch nicht automatisch die Merkmale des Phantastischen verlieren. Weshalb halten wir afrikanische Götter für phantastische Dinge? Doch wohl deshalb, weil wir von den ungewöhnlichen Eigenschaften, die ihnen von bestimmten Menschen zugeschrieben werden, nur eine ungefähre Vorstellung haben. Wenn wir nichts darüber wüßten, könnten wir ein Totem vielleicht für eine extravagante Skulptur halten, jedoch niemals für eine phantastische Schöpfung. Hier stoßen wir erneut auf ein Attribut des Phantastischen, das durch ein Begriffssystem denominiert wird, nämlich: durch den Glauben der Afrikaner, die diese Götter anbeten.
Für uns ist ein Totem nur ein Gegenstand, für die Bekenner der afrikanischen Religion aber ein zu ihrem System gehörendes Signum. Darf man nun folgern, daß die Statuen von Engeln phantastische Objekte sind? Wohl kaum, denn in unserem Kulturkreis gelten Engel nicht als phantastische Wesen. Wir berühren hier einen delikaten Punkt der Psychologie des Glaubens: Christen ist es wohl kaum erlaubt, Engel für erdachte Wesen, die keine reale Existenz besitzen, zu halten. Gemäß dem Dogma, an das ein Christ glaubt, sind Engel existent, wenn auch auf eine andere Weise als Wolken oder Tisch und Stühle. So zählen selbst für die Menschen, die den gegebenen Glauben nicht teilen, aber im Kreis seiner permanenten Ausstrahlung erzogen wurden, die Dinge, die durch die Begriffe dieses Glaubens denominiert sind, eigentlich nicht zum Phantastischen. So halten wir die Taube, sprich Heiliger Geist, die Erzengel, die Seraphime, Gott-Vater usw. nicht für phantastische Erscheinungen. Und wir würden von einem Werk, in dem Maria Verkündigung dargestellt wird, wohl eher sagen, daß es zum religiösen Schrifttum gehört als daß es phantastische Literatur sei. Vom empirischen Standpunkt ist der Text ganz offensichtlich phantastisch, doch die Kriterien, die man bei einem Kommunikat zur Charakterisierung des Phantastischen gewöhnlich anlegt, sind eher kulturmorphologisch als wissenschaftlich-empirisch. Aber weshalb halten wir den dreiäugigen Schiwa oder den Zerberus-Hund für phantastische Wesen?
Doch wohl deshalb, weil die Gottheit aus einem uns fremden Kulturkreis und der Hund aus der Mythologie eines seit langem toten Glaubens (und zwar der griechischen Mythologie) stammt. Die durch die unterschiedlichen Kulturkreise bedingten Differenzierungen, die die Taube, sprich Heiliger Geist, von Schiwa oder Zerberus unterscheiden, existieren für den Empiriker nicht.
Für einen Christen ist der Heilige Geist existent, wenn auch auf eine andere Weise als gewöhnliche Gegenstände; er ist ein transzendentes, aber kein phantastisches Objekt. Für einen Mathematiker-Platoniker dagegen existieren ideale mathematische Objekte, die er bei seiner Arbeit benutzt wie z. B. der Kreis, der Punkt, die Kugel, die Gerade etc.; diese Objekte existieren — so sagen die Platoniker - ebenfalls auf eine andere Weise als gewöhnliche Gegenstände, aber auch auf eine andere Weise als Engel oder Seraphime. Die idealen Objekte eines Mathematikers existieren somit in der Transzendenz, aber nicht auf eine übernatürliche Weise. (Sie sind nicht sakral.) Hier geht es um eine weitere, die dritte Variante des existentiellen Status.