Günter Ebert
Stanislaw Lem und DER SCHNUPFEN
Der Titel führt in die Irre — wie auch der Schutzumschlag, der eine fotografierte Hand zeigt, die aus einem realen Rasenstück wächst. „Der Schnupfen", Stanislaw Lems neuestes Kunststückchen, befällt weder die Menschheit der Zukunft noch sonst ein utopisches Individuum — in besagtem Buch geht es um banale Zufälle, die freilich einem Dutzend Männer im sogenannten besten Alter das Leben kosten. Die Geschichte spielt in der Gegenwart, in Neapel, Rom und Paris, und ich würde säe gern ein Lehrbuch der Logik nennen.
Was natürlich bei einem Autor wie Lem, der mit seinen phantastischen Mystifikationen die halbe Welt zu faszinieren wußte, überhaupt nichts mit Trockenheit und langweiliger Belehrung zu tun hat. Dieser Mann ist nicht schlechthin Verfasser wissenschaftlich-phantastischer Romane, er ist als Erzähler ein Zauberer, der seine klugen Überlegungen mit fesselnder Anschauung auszustatten weiß.
Das Rätsel von Neapel beginnt wie ein richtiggehender Reißer: Ein Mann ist unterwegs, er tut alles, was vor ihm ein Mr. Adams getan hat. Die Darstellung nimmt sich erst einmal wie ein Krimi aus mit einem leicht utopischen Einschlag; denn man weiß absolut nicht, was auf dem Spiel steht und ob nicht kosmische Mächte am Werke sind. Dabei entfaltet sich eine ungemein heiße Spannung. Ein paar Andeutungen reizen den Leser, seine Vorstellungen auf die Reise zu schicken. Der Ich-Erzähler, der sich Georg L. Simpson nennt, in Wirklichkeit John heißt, ist ein ehemaliger Astronaut. Er benutzt die Hemden eines Toten, seine Koffer, eben die des Mr. Adams, er steht über seine Herztöne mit anderen Leuten im ständigen Funkkontakt. Ein mysteriöser Schleier verlangt dringend zerissen zu werden. Zwischendurch gerät unser Privatdetektiv, ich will John, unseren Mann, erst einmal so klassifizieren, in einen verrückten Terroranschlag auf einem noch verrückteren Flughafen —ein technisches Wunderwerk; perfekt eingerichtet, um eben solche Anschläge zu verhüten. Ich kann die Funktion der Episode im Romanganzen nicht erkennen, muß aber zugeben, daß Lem sich hier als ein Meister seines Handwerks erweist: Das Raffinement seiner Beschreibungen ist kaum zu übertreffen. Für mich beginnt die Geschichte ihren wahren Wert erst im dritten, dem Paris-Kapitel, zu entfalten. Unser Erzähler sucht Dr. Philip Barth auf, einen Problemanalytiker, der sich mit der elektronischen Lösung von Kriminalfallen befaßt. Dem Mann wird der Fall vorgetragen, um den es wirklich geht. Und wir als Leser sehen uns nun tatsächlich aufgefordert, bei Kenntnis aller bekannten Tatsachen, uns an der Lösung der Rätsel von Neapel zu beteiligen.
Ein Dutzend Männer, Urlauber Geschäftsreisende, verschwinden auf geheimnisvolle Weise und sterben unter merkwürdigen Umständen. Ein Verbrechen ist nicht zu erkennen. Verblüffend nur die äußere Ähnlichkeit der Männer. Sie waren alle von athletischer Statur, hatten eine beginnende Glatze und befanden sich zwischen dem vierzigsten und fünfzigsten Lebensjahr. Die Polizei kann das Rätsel nicht lösen. Simpson alias John ist nun von der Erbin eines der Toten beauftragt worden, in die Hülle des Mr. Adams zu schlüpfen, um vielleicht doch die oder den Verbrecher anzulocken. Doch Johns Leben wird — vorerst wenigstens — nicht abgefordert.
Und ich werde mich selbstverständlich hüten, hier mehr als nur einen Zipfel des Geheimnisses preiszugeben. Dann natürlich beruht ein wichtiger Teil des ästhetischen Vergnügens dieser Lektüre im Mitdenken. Insofern gleicht „Der Schnupfen" einem guten Kriminalroman, der außer einem bestimmten Maß von Wirklichkeit, das er einbringt, auch Denktraining bedeutet. Stanislaw Lem fordert in dem Punkte seine Leser weitgehend heraus: Man muß seine logischen Kenntnisse schon mächtig anstrengen, will man allen Überlegungen folgen. Die Mühe lohnt; der Entschlüsselung beigewohnt zu haben, lüftet die eigene Erfahrung. Aber dieser Autor tut ein Weiteres: Wie ganz nebenbei führt er uns vor, was denn das heißt, chemische Kriegsführung, was bestimmte Nervengifte anzurichten vermögen. Das Thema steht nicht im Zentrum, ist aber unübersehbar. Der Schluß ist zwingend: Man muß die Menschheit schützen vor Experimenten dieser Art. Noch tötet nur der Zufall in Neapel.
[11 März 1978, Neubrandenburger Zeitung]