Wir glitten über der großen Halle entlang. Zu beiden Seiten der Brücke glänzten im Lampenlicht Romulus, Remus und die Wölfin, und der Plastikumschlag des Japaners jaulte bereits durchdringend. Eine Bewegung ging durch die zusammengedrängten Menschen, obwohl niemand etwas sagte. Allein der Japaner zuckte nicht einmal mit den Wimpern. Eine ganze Zeitlang stand er mit steinernem Gesicht in dem anschwellenden Geheul, doch der Schweiß trat ihm in Tropfen auf die Stirn. Er riß den Plastikumschlag aus der Tasche und begann, wild mit ihm zu kämpfen. Er riß daran wie ein Berserker, von allen Blicken verfolgt, niemand sagte ein Wort, nicht eine Frau schrie.
Was mich betrifft, war ich nur neugierig, wie man ihn zwischen uns herauspicken würde. Als die Seufzerbrücke zu Ende war und der Gang um die Ecke bog, hockte sich der Japaner so plötzlich und so tief nieder, daß er in den Erdboden zu versinken schien. Ich begriff nicht sofort, was er in der Hocke machte. Er riß den Kasten seiner Nikon aus dem Futteral und öffnete ihn, der Gang verlief wieder gerade, doch hoben sich Stufen, er verwandelte sich in eine Rolltreppe, denn die zweite Seufzerbrücke ist eigentlich eine Treppe, die schräg durch die große Halle zurückkehrt. Als der Japaner wieder auf den Beinen stand, erschien neben seiner Nikon ein runder, wie von Zuckernadeln glitzernder Gegenstand, eine Walze, die ich kaum hätte umfassen können. Es war eine nichtmetallische Korund-Handgranate mit gezahnter Oberfläche und ohne Stiel. Ich hörte den heulenden Plastikumschlag nicht mehr. Der Japaner drückte den Boden der Granate mit beiden Händen an den Mund, als wollte er ihn küssen, und erst als er ihn vom Gesicht wegriß, begriff ich, daß er mit den Zähnen den Zünder herausgerissen hatte - er steckte zwischen seinen Lippen. Ich stürzte auf die Granate zu, berührte sie aber nur, weil er sich heftig nach hinten warf, einige Leute dabei umstieß und mir gegen das Knie trat. Mit dem abgewinkelten Ellbogen traf ich das kleine Mädchen ins Gesicht, der Schwung trug mich auf das Geländer, ich stieß noch einmal mit dem Mädchen zusammen und riß es mit, während ich über das Geländer sprang. Wir flogen beide durch die Luft. Ich spürte einen harten Schlag im Kreuz und fiel aus dem Licht ins Dunkel.
Ich erwartete, auf Sand aufzuschlagen. Die Zeitungen hatten nicht geschrieben, was den Boden der Brückenhalle bedeckte, aber unterstrichen, die Explosion der herabgeworfenen Bombe habe keine Zerstörungen angerichtet. Also rechnete ich mit Sand und bemühte mich, im Flug die Beine anzuziehen. Doch statt Sand spürte ich etwas Weiches, Elastisches, Feuchtes, das unter mir nachgab wie Schaum, und dann fiel ich in eine eiskalte Flüssigkeit. Gleichzeitig traf mich der Donnerschlag der Explosion bis ins Mark. Ich verlor das Mädchen. Meine Beine gerieten in morastigen Schlamm oder Schlick, ich versank darin, obwohl ich verzweifelt mit den Armen schlug, bis mich wie eine starke Faust die Ruhe packte. Eine Minute, vielleicht noch etwas mehr, stand mir zur Verfügung, um mich herauszuarbeiten. Erst denken, dann handeln. Es mußte ein Behälter sein, der durch seine Form eine Verstärkung der Druckwelle verhinderte. Also keine Schüssel, sondern eher ein Trichter, mit einer schlüpfrigen Masse ausgelegt und mit Wasser gefüllt, das mit einer dicken Schicht dämpfenden Schaums bedeckt ist.
Statt mich vergeblich nach oben zu reißen, denn ich war bis zu den Knien eingesunken, hockte ich mich hin wie ein Frosch und tastete mit gespreizten Fingern den Grund ab. Er stieg nach rechts an. Ich benutzte die Handflächen wie Schaufeln, kroch dorthin und zog die Füße aus der Masse - eine ungeheure Anstrengung. So robbte ich weiter; ich glitt von der schiefen Ebene ab, benutzte die Hände wieder als Schaufeln und erhob mich auf sie, als schöbe ich mich ohne Griffe einen Schneehang hinan, aber dort kann man atmen.
Ich rappelte mich hoch, bis große Blasen auf meinem Gesicht platzten und ich halberstickt nach Luft schnappen konnte, in einer Dunkelheit, die von einem Menschengebrüll über mir erfüllt war. Den Kopf dicht über der schwankenden Schaumoberfläche, sah ich mich um. Das Mädchen war nicht da. Ich sog tief die Luft ein und tauchte. Die Augen konnte ich nicht öffnen, im Wasser war etwas, wovon die Augen wie Feuer brannten, dreimal kroch ich heraus und tauchte wieder, ich spürte meine Kräfte schwinden, weil ich mich von dem morastigen Grund nicht abstoßen konnte, ich mußte über ihm schwimmen, damit er mich nicht einsog. Ich verlor schon die Hoffnung, da geriet mir ihr langes Haar in die Hände. Sie war von dem Schaum so glatt wie ein Fisch. Als ich ihre Bluse zu einem faßbaren Knoten drehte, zerriß sie mir in der Hand.
Ich weiß nicht so richtig, wie ich mit ihr nach oben angelangt bin. Ich erinnere mich an mein Zerren, an große Blasen, die ich von ihrem Gesicht wischte, an den ekelhaften, metallischen Geschmack dieses Wassers, an meine lautlosen Flüche und daran, wie ich sie über den Rand des Trichters stieß - es war eine dicke, gummiartig weiche Einfassung. Als sie bereits dahinter lag, kroch ich nicht sofort aus dem Wasser, sondern hing herab, bis zum Hals im leise raschelnden Schaum, ich atmete schwer, und die Menschen brüllten. Etwas wie ein dünner, warmer Regen fiel auf mich herab. Ich spürte einzelne Tropfen. Offenbar spinne ich, schoß es mir durch den Kopf, wo soll hier Regen herkommen? Als ich den Kopf hob, sah ich die Brükke. Wie Lumpen hingen Aluminiumflächen herab, und der Boden war durchlöchert wie ein Sieb. Die Stuf en sind in Form von Honigwaben aus Stahl gegossen - absichtlich als Sieb, sie sollen die Luft durchlassen, aber die Splitter aufhalten.
In dem Regen, der immer noch fiel, kletterte ich über den bauchigen Rand und legte mir das Mädchen übers Knie, das Gesicht nach unten. Es stand besser um sie, als ich gefürchtet hatte, denn sie erbrach sich. Ich massierte gleichmäßig ihren Rücken und spürte, wie sie mit allen Knöcheln arbeitete. Sie würgte noch und verschluckte sich, atmete aber bereits. Auch ich mußte mich erbrechen. Ich half mit dem Finger nach. Es ging mir etwas besser, aber ich hatte noch nicht den Mut, mich auf die Beine zu stellen. Schon bemerkte ich die Umgebung, obwohl nicht viel Licht einfiel, zumal ein Teil der Leuchtröhren über der Brücke erloschen war. Das Gebrüll über uns verwandelte sich in Stöhnen und Röcheln. Sie sterben dort, dachte ich, warum eilt ihnen niemand zu Hilfe? Von irgendwoher kam Lärm, etwas rasselte, als versuchte man, die erstarrte Rolltreppe in Bewegung zu setzen. Schreie drangen bis zu mir, aber andere, von gesunden, heilen Menschen. Ich begriff nicht, was oben vorging. Die ganze lange Rolltreppe steckte voller Menschen, die in Panik übereinandergestürzt waren. Man konnte nicht zu den Sterbenden gelangen, ohne erst die vor Angst Wahnsinnigen zur Seite zu schaffen. Kleidung und Schuhe klemmten zwischen den Stufen. Es gab keinen seitlichen Zugang, die Brücke erwies sich als Falle.
Ich kümmerte mich inzwischen um mich und die Kleine. Anscheinend kam sie zu Bewußtsein, denn sie setzte sich hin. Ich redete auf sie ein, alles sei gut, sie solle sich nicht fürchten, gleich kämen wir hier heraus. Meine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, ich entdeckte tatsächlich bald einen Ausgang.
Es war eine aus Versehen offenstehende Klappe. Hätte nicht jemand seine Pflicht versäumt, hätten wir wie die Mäuse in der Falle gesessen. Hinter der Klappe war ein Tunnel, rund, kanalähnlich, mit einer weiteren Klappe oder eigentlich einem gewölbten Schild, auch nicht verschlossen. Ein Korridor mit Glühbirnen in vergitterten Nischen führte in ein Souterrain, das niedrig war wie ein Bunker, voller Kabel, Röhren und Versorgungsleitungen. Diese Röhren konnten zu den Waschräumen führen. Ich wandte mich nach dem Mädchen um, aber es war fort. »He! Wo bist du?« rief ich und blickte mich auf der ganzen Fläche um, die von Betonklötzen getragen wurde. Ich sah sie, wie sie barfuß von einer Stütze zur anderen sprang. Mit ein paar Sätzen holte ich sie ein, im Kreuz einen unerträglichen Schmerz, faßte sie bei der Hand und sagte streng: »Was für Einfälle, meine Liebe? Wir müssen zusammen bleiben, sonst verirren wir uns.« Schweigend folgte sie mir. In der Ferne vor uns wurde es heller, eine schiefe Ebene mit weißgekachelten Wänden. Wir gelangten auf eine höhere Etage, und hier wußte ich sofort, wohin diese Umgebung gehörte. Ich erkannte die nächste schiefe Ebene, die sich unweit öffnete, dort hatte ich vor einer Stunde den Gepäckkarren entlanggeschoben. Hinter der Ecke zeigte sich ein Korridor mit einer Reihe von Türen. Ich öffnete die erste, indem ich eine Münze einwarf, ich hatte Kleingeld in der Tasche, und nahm die Kleine sofort bei der Hand, weil ich dachte, sie wollte wieder weglaufen. Sie stand wohl noch unter der Schockwirkung. Kein Wunder. Ich zog sie in den Waschraum. Sie sagte kein Wort, und auch ich hörte auf, zu ihr zu sprechen, als ich im Licht sah, daß sie ganz mit Blut bespritzt war. Das also war jener warme Regen gewesen. Ich mußte ebenso aussehen. Ich zog sie und mich aus, steckte die Sachen in die Wanne, drehte den Hahn auf und stieß sie, selbst nur mit einem Slip bekleidet, unter die Dusche.