Stanistaw Lems «Fabeln zum kybernetischen Zeitalter»
Dass Ärzte nicht nur Rezepte, sondern auch Gedichte, Romane oder Dramen schreiben, ist nichts Neues. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es sogar einen Verband schreibender Ärzte. Dem wird der 72jährige Pole Stanislaw Lem schwerlich angehören. Von Hause aus ist er zwar Arzt, aber er braucht keine Kollegen, die ihm helfen müssten, seine Bücher unter die Leute zu bringen. Seit den Romanen «Astronauci» (1951, deutsch «Der Planet des Todes», 1954), «Oblok Magellana» (1955, deutsch «Gast im Weltraum», 1956) und seinen ersten Essays zur «Philosophie des Zufalls» («Filozofia przypadku», 1969) gehört er zu den international erfolgreichsten Autoren.
Lems Doppelbegabung fasziniert seither viele Leser.
Er ist als Science-fiction-Autor ebenso fruchtbar, wie er als Philosoph des technisierten Zeitalters kompetent ist. Das Verhältnis von «Phantastik und Futurologie» («Fantastyka i futurologia», Band 1 und 2, 1970) vermag er so zu diskutieren, dass Anthropologie, Ethik der Technik und Ästhetik zu ihrem Recht kommen. Seine Lust und Fähigkeit zu fabulieren scheint kaum erschöpfbar. Er entwarf grandiose und zugleich beängstigende Zukunftswelten. Aber er hob auch eine neue Gattung aus der Taufe: Besprechungen und Vorworte zu Büchern, die nicht existieren («Doskonala prozinia», 1971; deutsch «Die vollkommene Leere», 1973, und «Wielkosc uronoja», «Eingebildetet Grösse», 1973). Angesichts solcher Kreativität ist es nicht verwunderlich, dass Lem die Gattung Science fiction, die man oft genug das moderne Märchen nannte, um eine Spielart erweiterte: das «Robotermärchen» («Bajki robotow», 1964, deutsch 1973). Und seine Erfahrung als Autor legte er jüngst als «empirische Theorie der Literatur» («Philosophie des Zufalls», 1983) vor.
Über Lems Dichtung gibt der Band «Kyberiade» einen guten Überblick. Er vereinigt 15 Erzählungen, von denen sieben zum erstenmal ins Deutsche übersetzt wurden. Die Übersetzer sind einschlägig ausgewiesen: Jens Reuter, Caesar Rymarowicz, Karl Dedecius und Klaus Staemmler. Zweierlei ist erstaunlich: dass die deutschen Fassungen so einheitlich wirken, als wären sie von einem übersetzt, und ferner, dass Lems sprudelnde, ja gärende Sprachphantastik eingedeutscht werden kann.
Die zwischen 1957 und 1973 veröffentlichten Geschichten bilden eine Folge von Helden oder Untaten der - gleichfalls als Artefakte ein geführten - Konstrukteure Trurl und Klapauzius, die das Ganze wie der Picaro im Schelmen roman zusammenhalten. Was zunächst wie die Steigerung zum Kybernetik-Märchen aussieht erweist sich als Suche nach der Möglichkeit menschlichen Glücks, als «Experimenta Felicitologica», wie eine der Satiren heisst. Und wie bei jeder Satire ist ein ethisches Problem der Höhepunkt.
Eine phantastische Reise zum Berg Ethos - so möchte man witzeln, wenn man das Buch nachdenklich und amüsiert aus der Hand legt Die Stationen führen aus der Ebene heraus. Geht es erst darum, dass Maschinen die Eigenschaften ihrer Konstrukteure - Überheblichkeit und Neid etwa - vergrössern und vergröbern, so soll ein erstes Plateau den Erfolg bedeuten. Die Erfindung des Persönlichkeitstransformators und die Konstruktion von Robotern, die ihrerseits Märchen - satirisch-moralische, versteht sich - erzählen, lässt den Konstrukteur vor Glück erzittern. Der Gipfel scheint genommen zu sein, als das «Altruizin», das Mittel zum unausweichlichen Mitleid, oder die Formel für das allgemeine Glück entdeckt sind. Doch jede Etappe vermittelt die Einsicht, die Swift und Voltaire vorweggenommen haben: dass der «heldenhafte Kampf zur Verteidigung des „Allgemeinen Glücks"» zum Krieg aller gegen alle führe und man davon absehen müsse, «andere mit revolutionären Mitteln glücklich zu machen».
Der Autor Lem scheut vor harmonisierenden Lösungen zurück und stösst den Roboter-Schelm vom Gipfel in die Tiefe - an das Grab seines Lehrers Cerebron; von ihm muss sich der Lehrling Trurl abkanzeln lassen: Die Suche nach der vollkommenen Erfindung sei nichts anderes als Faulheit. «Aus Faulheit hast du nach Perfektion gestrebt, aus Faulheit hast du das Problem Maschinen übertragen und warst dir selbst für Autocomputerisierung nicht zu schade, mit anderen Worten, du hast dich als der erfinderischste all der Schwachköpfe erwiesen, die ich während meiner eintausendsieben" hundertsiebenundneunzigjährigen akademischen Laufbahn zu unterrichten hatte.» Seit Beginn unserer Zeitrechnung haben die Lehrlinge also nichts gelernt.
Lems Figuren - von Daniel Mroz launig und bizarr gezeichnet - sind so perfekte Artefakte, dass sie einem schon wieder ganz menschlich vorkommen. Die Hybris ist ihr Problem. Die Geschichten erinnern an die antike Forderung, dass der Redner eine herbe Wahrheit versüssen solle. Lem umgibt die bittere Pille - den unablässigen – Hinweis auf unsere Unvollkommenbeil - mit einer raffinierten, ja perfekten Schale, der ingeniösen Sprache, und so halten Belehrung und Lesevergnügen sich die Waage.
Bernhard Gajek [Neue Zürcher Zeitung, 20. 2. 1984]