Schwejk als Weltraumfahrer
Über das Vergnügen, Stanislaw Lem zu lesen. Siegfried Lenz
 
Zugegeben: Meine Begeisterung für Science-fiction-Literatur hat im allgemeinen enge Grenzen. Meine Erregbarkeit für sie läßt mehr als zu wünschen übrig. Nicht einmal der melancholische Witz eines Kurt Vonnegut jr. kann mich für die Nötigung entschädigen, ihn mit Lichtgeschwindigkeit auf galaktische Unternehmungen begleiten zu müssen. Bei aller Bereitwilligkeit zu kosmischen Streifzügen und bei aller Neugierde für außerplanetarische Vorkommnisse: die von weit her importierten Erfahrungen beunruhigen mich zu meinem Kummer wenig.

Sie betreffen mich kaum. Und was ihren Unterhaltungswert angeht: Ein Dachdecker auf dem Ulmer Münster, der, sagen wir, den unabwendbaren Konkurs seiner Firma zu bedenken hat, hält mich leider mehr in Atem als die kriegerische Auseinandersetzung von sternenhaften Glühmännchen, auch wenn sie im Gesicht einen noch so dekorativen Bohrer tragen.
Das liegt natürlich an mir und an meiner Unfähigkeit, die vielfachen Demütigungen durch die Schwerkraft zu vergessen, denen unsereins hier täglich ausgesetzt ist. Uns will es eben nicht gelingen, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, aus der empirischen Zeit auszusteigen, den Hunger ad acta zu legen oder uns achtlos über eine verpfuschte Biologie zu erheben: an jeder Ecke sozusagen wird uns unsere Unvollkommenheit bescheinigt.
Aber gerade diese Unvollkommenheit verpflichtet. Die vielfältigen Mängel fordern mein Interesse heraus. Nur ein Schicksal, in dem ich mich wiederfinden kann, geht mich etwas an. Deshalb nehme ich die aufregendste Information über monströse Zeitgenossen auf einer Milchstraße gleichgültiger zur Kenntnis als eine beiläufige Mitteilung über einen irdischen Nachbarn, dessen Pech ich mit meinem Pech vergleichen kann. Es ist keineswegs die Ferne allein, die zu solch einer Gleichgültigkeit führt; es ist vielmehr die uns unterwandernde Erkenntnis, daß. alle Ergebnisse kosmischer Erkundung, mögen sie auch noch so amüsant sein. uns in unserem dürftigen irdischen Leben zu nichts verpflichten, einfach, weil sie beliebig, weil sie nicht anwendbar sind.

Ein ähnliches Ungenügen an der vorliegenden Science-fiction-Literatur empfand wohl auch der Pole Stanislaw Lem — Jahrgang 1921 —, als er den Versuch machte, einer weitgehend unverbindlichen Literaturgattung neue Möglichkeiten zu verschaffen. Seine beispielhafte Tat: Mit Hilfe der Wissenschaftsgeschichte, über die er — bis zu ihren aktuellsten Daten — souverän verfügt, wies er der Science-fiction-Literatur eine Funktion zu, deren Ernst auch da noch auffällt, wo in hinreißender Clownerie abstruse Wirkungen physikalischer Gezetze vorgeführt werden.

Diese Funktion besteht ebenso in der Aufdeckung komplexer irdischer Verhältnisse wie in der Vorstellung ungeheuerlicher, doch nur folgerichtiger Entwicklungen. Diagnostische Befunde zu liefern und gleichzeitig prognostische Entwürfe zu präsentieren, von denen sich jeder betroffen fühlen kann: diesen Anspruch stellt Stanislaw Lem an die Science-fiction-Literatur — und wieviel dadurch gewonnen ist, beweist sogleich das aktive Vergnügen, mit dem man diesem Autor als Leser folgt.
Natürlich, auch Ijon Tichy, Lems Held der „Sterntagebücher" und des „Futurologischen Kongresses", muß sich, um den Honig außerirdischer Erfahrung zu sammeln, immer wieder von der Schwerkraft beurlauben. Er ist, als Forscher, sowohl auf räumliche als auch auf zeitliche Ferne angewiesen. Sein wissenschaftliches Entdekertalent bewährt sich vornehmlich auf sehr entlegenen Planeten, zu denen er — Münchhausen und Schwejk in einem — in einer arg schlichten, oft auch noch reparaturbedürftigen Rakete in selbstlosem Forschungsdrang aufbricht. Und schließlich ist es unausbleiblich — die Gattung verlangt es wohl —, daß er nach Reisen, die mehrere Lichtjährchen dauern, immer wieder auf Wesen und Zustände trifft, die ihm wie pure Phantastik vorkommen.

Doch schon bald merkt man: Hier hat einer die Ferne gewählt, um die Nähe schärfer erfassen zu können. Hier mißt einer irdische Erscheinungsformen nach kosmischen Maßstäben. Hier projiziert einer heimische Erfahrung auf sternenhafte Systeme — auf der Suche nach einem Ausweg, nach einer Veränderung. Und das liegt auch in  der erzählerischen   Beweisabsicht
Von Stanislaw  Lem - je nachhaltiger uns die galaktischen Wesen befremden, um so mehr gleichen sie uns. Je phantastischer uns die gesellschaftlichen Systeme auf fernen Planeten vorkommen, desto zuverlässiger entsprechen sie unseren eigenen.

Mit jeder neuen Reise bestätigt der erdverbundene Raumfahrer Ijon T chy: Die Ferne ist nah und verpflichtend genug — so nah, daß niemand grundlos erschrickt. Insofern könnte man, überspitzt gesagt, von Lems „Sterntagebüchern" als von einer kosmischen Heimatliteratur ersten Ranges sprechen.
Denn was Tichy, in der Galaxis streunend, entdeckt, ist uns mitunter auf fatale Weise erdvertraut. So entlarvt er den vollkommensten Polizeistaat in Karelirien, dessen Herrscher — Seine Elektrizität, der Kalkulator — einfach das ganze roboterhafte Volk zu Spitzeln macht — angeblich, um die immer wieder neu einschwebenden Wunschfeinde, die menschenähnlichen Leimer, sogleich zu entlarven. Am Ende zeigt sich, daß das ganze Volk aus Leimern besteht, und nicht nur die.;: Da Tichy einem Elektronengehirn nicht die absolute Schurkerei zutraut, die in Karelirien zu Hause ist, lüftet er die Identität des Kalkulators und bringt, natürlich, einen Menschen zum Vorschein.
So entwirft Tichy — als Delegierter der Erde bei der Organisation der Vereinten  Planeten — ein Bild von einer kosmischen Vollversammlung, bei der zwar niemand mit seinem Schuh auf den Tisch klopft, die meisten Vertreter sich aber so verhalten, daß ein gewisses Gebäude am Hudson River unwillkürlich ins Blickfeld gerät. Unnötig zu sagen, daß das „interplanetarische Strafrecht" sehr viele Einwände gegen eine Mitgliedschaft der Erde in der erlauchten Organisation bereithält.
So entdeckt Tichy ein Gemeinwesen, in dem es keine Individuen, sondern nur noch Funktionen gibt; er spürt eine Gesellschaft auf, die sich einfallsreich zugrunde richtet durch einen lange dauernden Ideologienstreit von faszinierender Blödsinnigkeit; er findet zu einem Orden von sonderbaren Glaubensbrüdern, die der völligen „Freiheit in der Sphäre der Körper-und Geistesverwaltung" zu leben versuchen. Daß aber auf den kosmischen Streifzügen auch der Spaß nicht zu kurz kommt, dafür sorgen jagdbare Kulupen, wildwachsende (doch eßbare) Möbel oder angriffslustige Riesenkartoffeln: hier zeigt Ijon Tichy, daß er auch das Zeug hat, ein Chaplin des Weltraums zu werden.
Und je bereitwilliger man sich von Lems Erfindungsreichtum, von seiner angewandten Ironie und seinem brandmarkenden Witz verschlagen läßt, desto deutlicher wird seine Überzeugung: es gibt kein Alternativsystem zur Erde. Auch wenn uns eine blinde Auflehnung gegen die Evolution des Lebens täglich nahegelegt wird, die Erde bleibt unser Ort, ihm allein, diesem malträtierten Planeten, muß unsere dringendste Aufmerksamkeit gelten, unsere Sorge.

Warum Lem seine bedrohlichen Erkenntnisse von der Galaxis auf uns herabregnen läßt, wird ebenfalls rasch deutlich; es ist für ihn eine Frage der modellhaften Reflexion und der Perspektive: Geh weiter weg von mir, damit ich dich besser sehen kann. Wohin Ijon Tichy auch in seinem Auftrag reist — die erbeuteten Einsichten betreffen allemal unsere erdhaften Zustände.
Das ist in den „Sterntagebüchern" so, und das gilt auch für den „Futurologischen Kongreß" — sinnigerweise ist das Büchlein blau gedruckt —, der in einem mittelamerikanischen Bananenstaat abgehalten werden soll. Natürlich ist Tichy dabei. Doch der Kongreß, in einem hundertstöckigen Hilton-Hotel untergebracht, kommt nicht zustande, weil wieder einmal eine Operetten-Revolution stattfindet, ein Machtkampf ausgetragen wird, bei dem die Polizei chemische Begütigungsmittel anwendet.
 
Das Zeitalter der Kryptochemokratie ist angebrochen, man herrscht unter Zuhilfenahme eines erlesenen Terrors: was droht, ist eine Versklavung durch Güte. Ein Gefrierschlaf erspart Tichy vorerst manch unliebsames Erlebnis, doch was er nach seinem Auftauen dem Tagebuch anvertraut, ist die Erfahrung des vollendeten Schreckens. Die Psychochemie triumphiert. Man lebt in einer Psivilisation. Die Gesellschaft hat ihre ordentlichen Höllen eingebüßt und wird selbst zur perfekten Hölle.
Was ein anderer Pole, was Czeslaw Milosz einst in seinem Buch „Verführtes Denken" als unmittelbare politische Bedrohung schilderte, stellt Stanislaw Lem hier als allgemeine futurologische Bedrohung dar: von der Murti-Bing-Seligkeit zu den sogenannten „Gutstoffen" oder „Benignatoren".
Doch bei allem unverhofften Aufschluß, den Lem uns über uns selbst und über die Zustände auf der Erde gibt, eines braucht man bei dieser Lektüre nicht zu befürchten — düstere Entlarvungsstimmung, feierliche Gerichtsatmosphäre. Im Gegenteil, ich wüßte auf Anhieb kein Buch zu nennen, in dem soviel gebildeter Sarkasmus versammelt ist, soviel zärtlicher Spott, soviel Humor, Schabernack, Witz und lichter Tiefsinn wie in den „Sterntagebüchern". Hier schießt die ehrwürdigste Logik Kobolz, und die klassischen Gesetze der Physik führen einen Kopfstand vor. Die außergewöhnliche Intelligenz des Autors — dies Gefühl hat man mitunter — zieht die Spiralnebel fort und gibt den Blick frei auf ein kosmisches Panoptikum, in dem wir uns selbst wiedererkennen.
Und im Stil des Panoptikums möchte man sagen: Hier gibt's was zu lesen, Leute; hier gibt's was zu denken, und wer andere Ansprüche stellt, dem wird der virtuose Sprachschöpfer Lem zu jedem linguistischen Vergnügen helfen. Hier kann jeder Wesen, Dinge und Verhältnisse in so unerhörtem und beziehungsreichem Sprachgewand erleben, daß er den Eindruck hat, mitunter einer Ausbesserung der Weltgeschichte beizuwohnen oder sogar einer, Neufassung dieser Welt.
Und dabei halfen Übersetzer, deren Arbeit Bewunderung verdient: Caesar Rymarowicz („Sterntagebücher") und I. Zimmermann-Göllheim („Der futurologische Kongreß").

[29. Juni 1974]